GEO: Frau Professor Becker-Stoll, Belohnen und Bestrafen haben heutzutage einen schlechten Ruf, dabei kommt kaum ein Elternteil ohne sie aus. Sollten wir sie als Erziehungsmethode rehabilitieren?
Fabienne Becker-Stoll: Nein, denn sie führen nicht zum Ziel. So gut wie alle Studien der vergangenen 25 Jahre haben gezeigt, dass beide Methoden das Verhalten höchstens kurzfristig verändern. Vor allem aber hemmen sie das Lernen von Kindern.
Die Kinder spuren nur, solange wir äußere Anreize setzen?
Oft nicht einmal dann. Auf Dauer verlieren die Belohnungen ihren Reiz und die Strafen ihren Schrecken. Außerdem sind sie in jeder Hinsicht kontraproduktiv, wenn es um die Entwicklung von Selbstwert, Kompetenzen, Moralempfinden, emotionaler Regulation und intrinsischer Motivation geht.
Warum sind Belohnen und Bestrafen dann weiterhin so weit verbreitet?
Sie gehören zur Lerntheorie aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert, die unsere Gesellschaft bis heute prägt. Beide Methoden versuchen gleichermaßen, das Verhalten des Kindes durch äußere Anregungen zu verändern, härter formuliert: zu manipulieren. So wie wir es bei Tieren machen: Wir konditionieren sie. Die moderne Entwicklungspsychologie hingegen fragt nicht: Wie trainieren wir erwünschtes Verhalten an?, sondern: Was brauchen Kinder, um sich gut zu entwickeln? Mit klassischer Konditionierung kommen wir da nicht weit. Kinder sind eben viel komplexer als hungrige Ratten. Doch leider hat sich dieses Wissen in der Gesellschaft, auch bei vielen Eltern und Lehrkräften, noch nicht durchgesetzt.