Stark befeuert wird die Gemütlichkeit durch deutsches Bier. Wo immer es getrunken wird, wirkt es menschenverbindend. Schluck für Schluck. Maß für Maß.
"An was denkt ihr, wenn ihr das Wort Gemütlichkeit hört?", fragte ich in die Biergartenrunde.
"Was für eine dumme Frage", raunzte meine deutsche Freundin Johanna, "natürlich an einen Biergarten."
"Gut, und an was sonst noch?"
"Gartenzwerg", rief meine französische Freundin Valerie.
"Kuckucksuhr", rief mein englischer Freund Harry.
"Schaukelstuhl", rief Johanna. "Wann endlich werden die Biergartenbänke gegen Biergartenschaukelstühle ausgetauscht?"
"Klingt wie ein buntes Deutschland-Puzzle", sagte ich. Jedes Puzzleteil erzeugt jenen Nestwärme verströmenden Gemütszustand, der so untrennbar mit den Deutschen verbunden ist, dass er weithin als Merkmal des deutschen Nationalcharakters gilt.
Zur Person
Sven Siedenberg lebt und arbeitet als Journalist und Autor in München. Seine Glossen, Kritiken, Reportagen, Porträts und Essays sind unter anderem im Spiegel, stern, Focus sowie in der Zeit, Süddeutschen Zeitung, Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung erschienen. Er hat an zahlreichen Anthologien mitgewirkt und bereits einige Bücher geschrieben, sein neuestes "Besservisser beim Kaffeeklatsching" ist im Heyne Verlag erschienen.
Skiurlauber aus Mittenwald sollen Mitte des 19. Jahrhunderts die Wörter "Gemütlichkeit" und "gemütlich" nach England mitgebracht haben, weshalb man 1852 in dem "Queen Victoria Journal" den Satz lesen konnte: "The view was so beautyful over the dear hills; the day so fine; the whole so gemütlich." ("Der Blick über die lieblichen Hügel war so überwältigend; der Tag so großartig; das Ganze so gemütlich.")
Abgeleitet vom Gemüt, verband sich im Biedermeier der Ausdruck "Gemütlichkeit" mit der Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Sonntagsbraten, Schlafrock- und Ohrensesselbehaglichkeit. Die 68er wiederum attackierten den Hang zur Behaglichkeit als dumpfe, "kryptofaschistische" Harmoniesucht.
Kaffeeklatsch und Weltschmerz sind ebenfalls sehr populär
Heutzutage wird es in hiesigen Gefilden besonders gemütlich, wenn sich alle unter einem Maibaum, in einer Skihütte oder vor einer Blümchentapete zum Kaffeeklatsch versammeln, um ihren immer wieder aufsteigenden Weltschmerz zu betäuben. Die Wörter Kaffeeklatsch und Weltschmerz sind übrigens ebenfalls sehr populär im Ausland.
"Wusstet ihr", sagte Harry, "dass das Wort Gemütlichkeit im englischen Sprachraum nichts weniger als 'the German soul' bezeichnet?"
"Noch ein Weißbier!", rief Johanna, und schunkelte.
"Für mich auch!", rief Valerie, fröhlich mitschunkelnd.
"Gemütlichkeit" ist ins Englische und Französische ausgewandert