Papaaaa, Leo hat Jesus den Kopf abgebissen!" Mit aufgerissenen Augen schaue ich zu meinem siebenjährigen Sohn Henri, der mit erhobenem Zeigefinger auf seinen kleineren Bruder zeigt, der erst eineinhalb ist. Dessen Hals macht in diesem Moment die letzte abschließende Schluckbewegung, die den Kopf von Jesus in Richtung Magen befördert und mir das Blut in den Adern gefrieren lässt.
Mein Herz fängt an zu rasen. Das Opfer, der jetzt kopflose Jesus, ist nicht irgendein Jesus. Sondern es ist DER Jesus! Der, der jedes Jahr neu arrangiert, neu in Szene gesetzt und zum festen Weihnachtsensemble meiner Schwiegermutter gehört. Wir sind hier nämlich nur zu Besuch. Jesus gehört uns nicht. Das macht die Sache nicht einfacher.
Meine Gedanken überschlagen sich. Wie lange dauert es wohl, bis der Kopf wieder rauskommt? Wann hatte Leo das letzte Mal die Hose voll? Warten auf das Christkind bekommt hier eine ganz andere Bedeutung. Aufgeregt schnupperte ich an Leo's Hintern. Nichts! Ohnmächtig denke ich, ist der Kopf vielleicht scharfkantig?
Der Autor
Björn Holm (36) ist Leiter der stern.de Technik und Hobby-Autor. Gemeinsam mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt er südlich von Hamburg.
Ich muss mit meiner Frau reden, ihr sagen, dass Jesus eine Darmverschlingung verursachen könnte. Die sitzt jedoch unerreichbar im anderen Zimmer und schaut in das prasselnde Kaminfeuer. Dazwischen liegt die Küche und damit auch meine Schwiegermutter.
"Henri, du musst jetzt echt dicht halten, wenn wir vom Flur durch die Küche gehen! Kein Wort über das hier und auch nicht darüber, dass Leo alle Häuser umgestellt hat. Klar?" "Wieso ist denn der Jesus aus Holz eigentlich so wichtig?", fragt mich Henri. "Das ist doch nur so ne olle Figur. Und außerdem fehlen hier die Heiligen Drei Könige, und das Ohr vom Esel ist auch schon weg."
Meine Neugier überwiegt die innere Anspannung. "Weißt du denn, wer die Heiligen Drei Könige waren und was die von Jesus wollten?", frage ich gespannt. In den nächsten zwei Minuten bekomme ich einen kurzen und knappen Abriss über die drei Personen, die vor 2009 Jahren in Bethlehem am Stall standen und dem Kind in der Krippe Geschenke machten. „Die heiligen drei Könige waren nämlich die Weisen aus dem Morgenland“, beginnt mein siebenjähriger Sohn. "Die hatten Gold, Weihrauch und Myrrhe für das Jesuskind dabei. Der eine hieß Kaspar, der andere Melchior und der letzte Balthasar, und einer von denen kam aus Afrika, von den Löwen."
Puh, das weiß ich auch, denke ich. Beruhigt schaue ich Henri an. "Und, die waren unbestechlich, denn der König hat gesagt, die sollen ihm sagen, wo das Jesuskind ist, wenn sie es besucht haben." Das wusste ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht!
Unendlich stolz, aber auch irgendwie beschämt schaue ich meinen Ältesten an. Stolz, was er alles über Weihnachten weiß, und beschämt, weil er so viel mehr weiß als ich! Ich drücke ihn fest an mich, bis er sich losreißt und mit lautem Gebrüll in die Küche entschwindet.
Vielleicht bedarf es der Unbeschwertheit eines Kindes, um in solch beiläufigen Situationen zu erkennen, dass Weihnachten nach wie vor mehr ist als der kopflose Jesus, das Weihnachtsensemble meiner Schwiegermutter, das gute Essen und alle sonstigen leiblichen Genüsse in diesen Tagen. Wir haben manchmal einfach nur vergessen, warum es Weihnachten gibt!
Mit dieser Gewissheit mache ich mich tapfer auf den Weg in die Küche, um meiner Schwiegermutter mitzuteilen, dass einer ihrer wichtigsten Protagonisten des Abends gerade den Kopf verloren hat. Fröhliche Weihnachten!