Sollte Ihnen jemals zu Ohren gekommen sein, Cannes sei eine Kleinstadt, vergessen Sie's schnell wieder. Schon zu Nichtfestivalzeiten herrscht hier munteres Treiben in der pittoresken Altstadt und an den langen Strandpromenaden. In der Nacht sind die umliegenden Hügel voller Lichtpunkte, die Villen und Ferienhäuser der Reichen und Schönen. Und wenn das Meer mal wieder einen Schwarm bläulicher Quallen anschwemmt, stört das das allgemeine Badevergnügen nur begrenzt.
In den zwei Mai-Wochen des Festivals kann man den Rummel getrost mal 100 multiplizieren. Vor allem am Wochenende, wenn zu den über 20.000 offiziellen Besuchern noch unzählige in- und ausländische Touristen, die einen kurzen Glamour-Ausflug unternehmen, aus allen Gassen quellen. Auf der Croisette, im Dunstkreise des Palais, geht dann zeitweise gar nichts mehr. Obwohl dort dann sowieso nur noch Fußgänger unterwegs sind. In den angrenzenden Straßen, den Ein- und Ausfallswegen bricht regelmäßig der Autoverkehr zusammen. Und um jede Einfahrt der teuren Hotels wie Noga Hilton, Carlton, Majestic oder Martinez ballen sich Trauben von Schaulustigen, die mal einen Blick auf den Anzugrücken von Brad Pitt oder die Schulter von Uma Thurman erhaschen wollen. Hier finden sich die Stars meist zu ihren Interviews ein, und irgendwie müssen die ja auch rein und raus aus den noblen Häusern.
Keine leichte Kino-Kost
Weil das alles offensichtlich noch nicht genug Trubel ist, lassen sich die Gewerkschaften zusätzlich ein paar Demos einfallen. Die "intermittents du spectacle", die Zeitarbeiter in Frankreichs Unterhaltungsindustrie, hatten zwar zu Beginn nach Verhandlungen erklärt, sie wollten das Festival weitgehend in Ruhe lassen. Trotzdem marschieren sie nun fast täglich die Croisette rauf und runter und nerven. Ein Teil des Personals des prächtigen Carlton-Hotels ließ daraufhin auch die Arbeit liegen und forderte mehr Geld und bessere Verträge. Jede samstägliche Großstadt-Fußgängerzone ist zurzeit gegen Cannes eine Oase der Ruhe. Also rasch ab ins Kino. Durchatmen. Doch die Filme der ersten Woche sind durchwegs keine leichte Kost. In gleich drei Beiträgen kreist die Handlung um die sexuelle Belästigung von Kindern.
Drei Filme kreisen um Kindesmissbrauch
In "La Mala Educación - Schlechte Erziehung" von Pedro Almodóvar sind es katholische Erzieher, die sich an ihrer Schützlingen in der Klosterschule vergreifen. Bei "La Niña Santa - das heilige Mädchen" der Argentinierin Lucrecia Martel machen sich die Gäste eines Ärztekongresses an Bibelschülerinnen heran. Pedro Almodóvar hat diesen Film produziert. Und in "The Woodsman", dem Debüt der amerikanischen Regisseurin Nicole Kassell, spielt Kevin Bacon einen traumatisierten Holzarbeiter, der nach zwölf Jahren Gefängnis lernen muss, seine Liebe zu kleinen Mädchen in den Griff zu bekommen.
Bacon stemmt die schwierige Rolle mit wenigen Dialogsätzen, dafür spricht sein Gesicht Bände. Eine kleine, aber feine Independent-Produktion, die besser in den Wettbewerb gepasst hätte als beispielsweise der komplett unverständliche koreanische Film "Die Frau ist die Zukunft des Mannes" von Hong Sangsoo. Was cool und intellektuell wirken soll, nervt trotz einer kurzen Dauer von nur 88 Minuten schnell mehr als jede Demo.
Matthias Schmidt