Während "normale" Menschen das neue Jahr mit guten Vorsätzen beginnen, schert dies die "Tatort"-Macher offenbar wenig. Man kann nicht behaupten, dass beim traditionellen Neujahrsfall im Ersten leichtere Themen im Vordergrund stünden: Zuletzt sah man da Geschichten über traumatisierte Entführungsopfer ("Stelzenmann", 1. Januar 2025) und einen Fall, in dem Kommissarin Julia Grosz, gespielt von Franziska Weisz, ermordet wurde ("Was bleibt", 1. Januar 2024). Gnade am Neujahrstag sähe anders aus. Auch vom diesjährigen Beitrag, dem "Tatort: Nachtschatten" aus Dresden, darf man keine Wunderdinge in Sachen gute Stimmung erwarten. Man lernt zu Beginn eine verwirrte, blutverschmierte junge Frau kennen: Amanda (Emilie Neumeister) irrt wie ein Alien durch die Dresdener Neustadt. Als sie mit einem Skalpell Passanten angreifen will, wird sie überwältigt und in Polizeigewahrsam genommen. Dort erzählt sie den Ermittlern Peter Schnabel (Martin Brambach) und Leonie Winkler (Cornelia Gröschel) eine unglaubliche Geschichte.
Ihr Vater, so Amanda, würde ihre Schwester und sie bereits ein Leben lang in einem Keller gefangenhalten. Nur die Mutter dürfe den Mädchen ab und zu Essen bringen. Zuwendung bekämen sie nur, wenn sie artig gewesen seien. Auch die Außenwelt hätten sie bisher nur in der Nacht gesehen – auf einem Spielplatz inmitten hoher Häuser. Das Argument des Vaters, die Mädchen so leben zu lassen, läge in dessen Überzeugung, dass es "draußen" sehr gefährlich sei.
Amanda wird nicht nur vernommen, sondern auch körperlich und psychologisch untersucht. Weil das Mädchen Fluchtversuche unternimmt und auch Gewalt einsetzt, tendiert eine Mehrheit von Ärzten, Therapeuten und Ermittlern für die vorläufige Unterbringung Amandas in einer Psychiatrie. Nur Leo Winkler glaubt, dass an der kruden Story des Mädchens etwas dran sein könnte. Sie sammelt Hinweise über die mögliche Lage des ominösen Kellers und klappert Haustüren ab, um die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen zu finden.
"Die Schule der magischen Tiere" goes "Tatort"
Nicht nur die junge Hauptfigur dieses Krimis sowie ihre Helferin, Kommissarin Winkler, sind weiblich. Auch hinter der Kamera waren vor allem junge Frauen am Werk. Das Drehbuch stammt von Viola M. J. Schmidt, die sich mit ihren Kinoadaptionen der beliebten Kinderromane "Schule der magischen Tiere" einen Namen machte. Mit ihrer Kellergeschichte, die das (ausgedachte?) Leben Amandas unter jenen Umständen immer wieder in Rückblenden zeigt, debütiert sie ebenso beim "Tatort" wie die 40-jährige Regisseurin Saralisa Volm. Sie kennt man vom eindringlichen Vergewaltigungsdrama "Am Ende der Wahrheit" mit Maria Furtwängler oder vom stimmungsvollen Psychothriller "Schweigend steht der Wald" mit Henriette Confurius. Dass Volm Atmosphäre, stimmungsvolle Bildern und Spannungsmomente auf gehobenem Regie-Niveau beherrscht, beweist sie nun auch mit ihrem ersten "Tatort".
Tatsächlich ist die zweite Hälfte des Dresden-Falles die bessere, was nicht unbedingt üblich ist in TV-Krimis, die oft abflachen, wenn sie ihr Thema erst mal wie die Katze aus dem Sack gelassen haben. Während in den ersten 40 Minuten die Frage der Glaubwürdigkeit Amandas die ein oder andere erzählerische Länge aufweist, ist die Spurensuche nach dem möglichen Kellerraum in Hälfte zwei ebenso spannend wie stark bebildert. Hier kommt auch Gaststar Nina Kunzendorf ins Spiel, die frühere Frankfurter "Tatort"-Ermittlerin, in der Rollen einer Hausmeisterin.
Ein kleines Besetzungs-Manko ist die von Emilie Neumeister gespielte Hauptfigur. Nicht dass die gebürtige Dresdnerin, die auch die Teenie-Tochter der Rostocker "Polizeiruf"-Kriminalhauptkommissarin Melly Böwe (Lina Beckmann) spielt, ihre Sache nicht gut machen würde. Nein, das Problem ist: Neumeister ist und wirkt wie Mitte 20, ihre Rolle soll jedoch 16 Jahre alt sein. Eine mutige Behauptung! Darüber hinaus ist dem Dresdener Revier, das schon immer Thriller-affin war, zum Jahresauftakt ein durchaus eindringlicher Gefangenen-Film mit wenig natürlichem Licht gelungen. Und das ausgerechnet an Neujahr.
Tatort: Nachtschatten – Do. 01.01. – ARD: 20.15 Uhr