Zunächst sind da die Vorurteile; mancher wird sagen: wieso Vorurteile? Der Götze, klar sei das ein Schnösel. Überheblich. Fremdbestimmt. Selbstverliebt und unnahbar. Ein Fußball-Pop-Star, omnipräsent auf Instagram und Facebook. Mehr Marke als Mensch. Wird zweimal Meister mit seiner Herzensliebe Borussia Dortmund - und was macht er? Wechselt zum großen Gegenspieler nach München. Gegen alle Beteuerungen. Stellt sich dort, im Adidas-Land, mit einem Nike-T-Shirt vor, gegen alle Gepflogenheiten. Nach seinem entscheidenden WM-Tor klang er so altersweise, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Man kann ewig so weitermachen bei Mario Götze. Das Bild von ihm rundet sich dann schnell. Der öffentliche Götze schien ja in der jüngeren Vergangenheit seinen Ruf als verwöhnter Jüngling regelrecht zu kultivieren.
Ein Vollprofi
Doch dann gibt es da noch andere Stimmen, von Männern, die dort mit ihm zu tun haben, wo die Kameras nicht hinreichen. Von Männern wie Joachim Löw. Einen Tag vor dem Länderspiel gegen Australien steht der Bundestrainer im Trainingsanzug im Foyer des Teamhotels in Frankfurt und legt den Kopf unmerklich schräg. Wie erlebt er diesen Götze? "Er trainiert unglaublich hart und diszipliniert", hebt Löw an. Es folgt eine Eloge: "Der Mario macht Tempoläufe, selbst nach hoher Belastung. Er legt auch mal eine Extraschicht ein, ordnet dem Fußball alles unter, ist wissbegierig, ehrgeizig, akribisch." Später bekommt man beim FC Bayern die gleiche Antwort. Götze? Ein Vollprofi. Unheimlich tüchtig.
Und als Typ? "Der Mario ist mit seinen jungen Jahren schon eine große Persönlichkeit." Im Mannschaftskreis sei Götze eher zurückgenommen. "Aber im persönlichen Gespräch ist er sehr offen", fährt Löw fort. Götze, sehr offen? Man traut seinen Ohren kaum. "Und immer selbstkritisch." Auch das will nicht passen zum öffentlichen Götze. Man könnte fast glauben, Löw spreche über einen anderen. Wer ist dieser Mario Götze? Bis heute gibt kein Nationalspieler so viele Rätsel auf wie dieser Sohn eines Professors für Datentechnik. Sein unterkühlter Torjubel nach Liga-Treffern, die geschäftsmäßigen Interviews, nicht wenige tun sich noch immer schwer, diesen Götze zu fassen. Wo endet seine Pose? Wo beginnt die Persönlichkeit?
Finaltorschütze, geniales Schlitzohr, äußerlich ein deutsches Ebenbild Justin Biebers - eigentlich fehlt nichts zum Liebling der Nation. Götze hat das Warmlaufen für die Weltkarriere glatt übersprungen. Selbstbewusst und forsch macht so ein Start normalerweise. Doch er ist vorsichtig geworden, das wird schnell deutlich, als er schließlich vor einem sitzt.
Oft fühlte er sich missverstanden
Der Babyspeck - weg. Drahtig ist er geworden, fast dünn. Zugewandt und freundlich antwortet er. Aber er ist ein gebranntes Kind, will sich rückversichern. Zu oft fühlte er sich missverstanden. Man wird ihn lesen müssen, während er spricht. Denkt er noch oft an das Tor? Er lächelt matt. "Persönlich beschäftigt es mich kaum noch. Es liegt ja schon wieder ein Dreivierteljahr zurück", antwortet er. Und er steckt schon mitten in der nächsten Prüfung. Auch bei Löw. Vor allem aber in München. Sein Problem, dass er mit seinem Traumtor im WM-Finale die Krönungsmesse einer ganzen Karriere gleich an den Anfang seiner Laufbahn gesetzt hat. Nun muss er im beschwerlichen Münchner Alltag die Befähigung zum Regieren nachreichen.
Spürt er, dass sich sein Status im Bayern-Kader durch die WM verändert hat? "Ich weiß, dass ich viel Erfahrung vorweisen kann, die kann und will ich natürlich einbringen", sagt er vorsichtig. Er habe "Lust, Verantwortung zu übernehmen". Sein Teamkollege Thomas Müller war da schon vor der WM forscher: "Ich bin nicht mehr der Typ, der sagt: Gut, jetzt habe ich hier und da eine gute Rolle gespielt, trotzdem halte ich meine Klappe, und jeder kann mit mir machen, was er will." Dagegen klingt Götze beinahe devot. Erst als er mit Müllers Aussage konfrontiert wird, traut er sich ein bisschen weiter vor. Er könne dessen Aussage verstehen. "Es ist mein Anspruch, ein fester Teil des Kerns der Elf zu sein. Bei der Nationalmannschaft und beim FC Bayern", sagt er nun. "Dazu gehört, auch mal unangenehme Dinge anzusprechen." Warum hört man ihn dann so selten? "Das ist mein Naturell." Prompt gerät er manchmal zwischen all den Robbens und Schweinsteigers beinahe in Vergessenheit.
"Mit Rückendeckung vom Trainer spielt jeder besser"
In München berichten sie, Götze habe sich nach seinem Wechsel aus Dortmund lautlos eingegliedert. Man findet niemanden, der schlecht über ihn spricht. Dabei ist es nicht so, dass er glücklich ist, so wie die Dinge derzeit liegen. Verbuchte er sein erstes Jahr unter Trainer Guardiolas strengen Augen noch als Lehrzeit, so stellt sich die Lage derzeit unbefriedigend dar. Nach guter Hinrunde rotiert er schon wieder munter zwischen Bank und Tribüne hin und her. "Man wird nicht gerne ausgewechselt", sagt er plötzlich. "Es wäre seltsam, wenn es anders wäre", schiebt er schnell hinterher. Wünscht er sich mehr Kredit? "Mit Rückendeckung vom Trainer spielt jeder besser." Vertrauen brauche jeder Spieler, um seine Leistung zu bringen. Beinahe erschrocken über so viel Kühnheit fügt er an: "Die spüre und habe ich bei Pep Guardiola genauso wie bei Jogi Löw." Bloß nicht vorlaut klingen. Er hat da einen hohen Ehrenkodex.
Menschen aus seinem Umfeld erleben ihn bisweilen gewaltig genervt von Guardiolas ständigen Wechseln. Götze spürt die Zweifel des Trainers. Und sein Gefühl trügt ihn nicht. Nach der Vorrunde sei es "wieder ein bisschen runtergegangen", sagt einer aus dem Klub. Dominanter wollen die Chefs Götze sehen, klarer in seinen Aktionen. Noch immer taucht er ihnen zu oft ab, reduziert er seine Kunst auf den einen genialen Moment. Der Trainer wittert dann Teilnahmslosigkeit, der schlimmste Verdacht, den er hegen kann. Aber steckt das überhaupt in Götze: dominieren? Er wird nie mit Schaum vor dem Mund immer wieder nach vorn rennen wie die Kollegen Robben oder Ribéry.
Einer wie Götze, der brennt nicht wie eine lodernde Flamme, der strengt sich an. Wohlbehütet ist er als Hochbegabung groß geworden. Alles wurde ihm abgenommen, ihn treibt nicht die Wut des Underdogs. Fehlt ihm deshalb manchmal die Galligkeit? "Ich arbeite hart und diszipliniert, tue alles, um jedes Mal das Maximum herauszuholen. Auf die Außenwirkung habe ich keinen Einfluss", antwortet er mit monotoner Stimme. Joachim Löw sagt: "Dass Mario sich dem Kampf entzieht, würde ich nicht sagen. Der Mario kämpft auf seine Art und Weise."
"Er könnte ja noch U21 spielen"
Eine Führungspersönlichkeit könne Götze ja noch gar nicht sein. "Er könnte ja noch U21 spielen, das darf man nicht vergessen", erinnert Löw. "Er kann sich schon dahinentwickeln, zum Leader. Auch Bastian Schweinsteiger oder Philipp Lahm waren mit 22 noch nicht so weit."
Am folgenden Abend steht Götze im Länderspiel gegen Australien in der Startformation. Er hat vom Publikum in Kaiserslautern den lautesten Beifall bei der Vorstellung erhalten. Ein Dank, für jenes Tor in Brasilien. Er läuft viel in den 73 Minuten bis zu seiner Auswechslung, dabei wird aus ihm kein Sprinter mehr. Seine Welt sind die engen Räume, rund um den Strafraum. Löw nennt ihn "einen raffinierten Spieler".
Wenn das Fußballspiel ein Gemälde ist, sorgt Götze mit einem unerwarteten Pass für die finalen Farbtupfer. Die Leinwand ziehen andere auf. Noch immer wirkt er bisweilen in seiner Körperlosigkeit wie ein Jugendspieler. Auch da wächst er noch. In Kaiserslautern springt wie vier Tage später beim 2 : 0-Sieg im EM-Qualifikationsspiel in Georgien nicht viel heraus. Dennoch gibt Götze nach der Partie in der Pfalz in der Mixed Zone bereitwillig Antwort. Das war nicht immer so. Früher konnte er Reporter mit einer Verachtung an sich abtropfen lassen, die für die Beteiligten erniedrigend war. Natürlich habe er Fehler gemacht, räumt er jetzt ein. "Ich denke aber schon, dass ich die richtigen Konsequenzen daraus ziehe."
Er bemüht sich. Will weiter, nicht nur als Spieler. Verantwortungsbewusster werden. Am Morgen nach dem Spiel spuckt seine eigene Götze-App einen Spielbericht aus. Und einen Link zum Cover des österreichischen "Sport Magazins", Freundin Ann-Kathrin Brömmel, ein Model, posiert dort in knapper Bademode. Ein Hauch von Beckham liegt über derlei multimedialer Verlinkung. Die Marke Götze, sie will bedient werden. Manchmal könnte man meinen, ihr Träger sei mit ihr verschmolzen. Wer ist Mario Götze?
Er ist jetzt eine Marke
Die Antwort ist denkbar einfach: ein junger Mann, der noch seine Rolle sucht. Und sich selbst wohl auch. Manchmal wirkt er, als habe er sich mit seinen 22 Jahren zu viel zugemutet. Der Druck ist ja für einen, den man getrost als digitale Antwort auf das analoge Wunderkind Boris Becker bezeichnen kann, schon groß genug. Einen Spießrutenlauf durch sämtliche Onlineforen und eine ganze Stadt hat er bereits hinter sich. Dortmund, seine alte Heimat, konnte nicht verzeihen, dass er die Borussia über Nacht verließ. Zumindest die Leichtigkeit muss Götze abhandengekommen sein in jenem Frühjahr des Jahres 2013.
Am Samstag kehrte er mit dem FC Bayern zurück in jenes Stadion, in dem er zum Bundesligaspieler reifte. Er habe der Borussia viel zu verdanken, aber die Familie sei jetzt in München, sagt er. Und Dortmund kein Thema mehr. Es klingt noch ein bisschen auswendig gelernt. Als könne Götze sein altes Leben einfach hinter sich lassen und ein neues beginnen.
Aber vielleicht geht das ja wirklich, mit 22. Mario Götze steht wieder ganz am Anfang. Geschichte hat er schon geschrieben. Er ist jetzt eine Marke. Zeit, sie mit einem stabilen Kern zu füllen.