Da, wo Wroclaw, das frühere Breslau, noch unfertig ist, will Leszek mir einen deutschen Atlas aus den 30er Jahren verkaufen. Er wohnt in einem stark renovierungsbedürftigen Jugendstilhaus in der Ulica Pawla Wlodkowica im alten Jüdischen Viertel. Als er im Treppenhaus fremde Stimmen vernimmt, öffnet er die Tür einen Spaltbreit, um sie schnell wieder zu schließen. Der Schlüssel dreht sich im Schloss. Zwei Minuten später geht die Tür erneut auf. Leszek hat beschlossen, dass keine Einbrecher auf dem Flur stehen.
Er lächelt und präsentiert seinen Atlas. Ein gewaltiges Trumm mit Grenzen, die man heute weder in Polen noch in großen Teilen Deutschlands wiederhaben möchte. Als er das antiquarische Stück nicht loswird, bittet er die Besucher stattdessen herein. 600 Zloty, also ca. 160 Euro, zahlt der Mittfünfziger für die knapp 120 Quadratmeter, auf denen er mit seiner Frau wohnt. Vier Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Traumhafte Lage am Rand der City. "Alles da", sagt er und zeigt zufrieden auf Dusche und Heizung. Das Jüdische Viertel hat ziemlich viel Jugendstil, aber auch ziemlich wenig Geld. Man sieht es überall in der Wohnung. Der Putz bröckelt hier und da, der Stuck ist lückenhaft. Leszek hätte nichts gegen ein perfektes Zuhause, sagt er, aber mit den Renovierungen kämen die Spekulanten - und dann stiegen die Preise. Vielleicht ist so seine Reaktion vor einer Viertelstunde zu erklären.
Tristesse und Anmut liegen in Polens viertgrößter Stadt immer noch nah beieinander. Verfallene Gebäude im Jüdischen Viertel, sozialistische Plattenbauten in den Vororten, aber auch stilsicher renovierte architektonische Schmuckstücke am Naschmarkt in der Innenstadt. Sie zeugen von der großen Kunst polnischer Restauratoren.
Bauarbeiter fehlen
Dabei zeigt die Öffnung nach Europa zwei Seiten einer Medaille: Der Staat kann mittlerweile mehr Geld für die Renovierung von 400 historischen Altbauten allein in Breslau ausgeben. Da landesweit rund 150.000 Bauarbeiter fehlen, die nun in Irland oder Großbritannien werkeln, rottet so manches architektonische Schmuckstück vor sich hin.
In der Oderstadt gibt es zwischen Altstadt und Dominsel auch gute Nachrichten in puncto Renovierung: Zum Beispiel der gelb gestrichene schmucke Sitz des katholischen Erzbischofs. Oder die prächtig hergerichtete Aula der Uni Leopoldina, die 1702 als habsburgisch-katholische Gründung in die Stadtgeschichte einging und die im Inneren etwas von einer üppigen Barockkirche hat.
Nebenan schlendern die jungen Polen übers Unigelände - Bücher unterm Arm oder einen Kaffee in der Hand, ins Gespräch vertieft mit einem deutschen Austauschstudenten. Für manchen Beobachter erstaunlich, wenn man die schwierige deutsch-polnische Geschichte im Allgemeinen und die der Uni im Besonderen im Hinterkopf hat. Aber auch ein Zeichen zunehmender Normalität zwischen europäischen Nachbarn.
Alte Universitätsstadt
Die Universität in Breslau galt jahrhundertelang als deutsche Hochschule, bis Nazi-Gräuel, jüdische Vertreibung und der Eiserne Vorhang für ein abruptes Ende dieser Tradition sorgten. Aus Breslau wurde Wroclaw und die Uni eine polnische Lehranstalt.
Nach dem Wegfall der ideologischen Grenzen und einem entspannteren Umgang mit der Geschichte ist man heute durchaus stolz auf das deutsche Erbe. Das zeigt eine steinerne Wandtafel in einem anderen Gebäude, auf der die acht Nobelpreisträger verzeichnet sind, die hier einmal gelehrt haben. Alle acht haben deutsche Namen. Darunter der erste Literatur-Laureat von 1901, Theodor Mommsen, und der Mediziner Paul Ehrlich, der Begründer der Chemotherapie.
Das mit den Namen gilt für zahlreiche weitere Söhne der Stadt, wie Gerhard Hauptmann und Arbeiterführer Ferdinand Lassalle, einer der "Väter" der SPD. Das Verhältnis der Polen zu ihren westlichen Nachbarn ist immer noch weit davon entfernt, normal zu sein. Das liegt an beiden Seiten. Streitpunkte und Streitnamen könnte man wie bei einem Pingpong-Ball hin und her schmettern: Ostsee-Pipeline, Zentrum für Vertreibung, Kaczynski, Erika Steinbach heißen nur einige der Reizwörter auf beiden Seiten der Oder.
Politischer Neuanfang
Wobei gerade die Intellektuellen auf den kürzlich gewählten Donald Tusk und somit einen Neuanfang setzen. "Kaczynski war uns ziemlich peinlich", sagt eine Germanistin und Kunsthistorikerin in Breslau. "Jetzt ist die Zeit der Blockadepolitik in Europa hoffentlich vorbei."
Der Schengen-Raum ist gerade um Polen erweitert worden, die Einführung des Euro steht vor der Tür. Wie sagte ein Pole in der "Tagesschau" so treffend: "Wir sind keine EU-Mitglieder zweiter Klasse mehr."
Inzwischen besinnt man sich in Breslau nicht nur mehr und mehr des germanischen Erbes, das bis zum Deutschen Orden des Mittelalters zurückreicht. Man ist auch stolz auf die habsburgischen, böhmischen oder die eigenen polnischen Wurzeln. Bereits nach den verheerenden Jahren des Zweiten Weltkriegs wurde die ausgeblutete Stadt durch viele Menschen aus dem östlichen Lemberg (heute Lviv), das an die Sowjetunion gefallen war und heute zur Ukraine gehört, wieder zu neuem Leben erweckt. Die Ostpolen ersetzten die geflohenen und vertriebenen Deutschen. Dieser Einfluss ist heute allgegenwärtig: Viele Namen sind ostpolnischen Ursprungs, zahlreiche Restaurants verweisen kulinarisch auf die Zugewanderten und auch das berühmte Fredro-Denkmal am Alten Rathaus, das 1945 von Lemberg nach Breslau überführt wurde, steht für diese Entwicklung.
Touristen erwünscht
Die polnischen Stadtväter bemühen sich sehr, Besucher aus Deutschland anzulocken. Warum, so sagen hier viele, sollen die Touristenströme immer gen Prag, Wien oder Paris gehen? Dabei setzt man bewusst auf die jungen Deutschen und nicht so sehr auf die Nostalgiegäste. Breslau als Zentrum Niederschlesiens ist gerade mal drei, vier Autostunden von Berlin entfernt. Die Stadt gibt sich nicht nur jugendlich, sie ist jung. Jeder sechste Einwohner ist Student, die Musik- und Kneipenszene ist überraschend vielseitig, von traditionell bis avantgardistisch, Galerien werden fast im Wochentakt eröffnet.
Reise-Informationen
Einreise: Seit dem 1. Januar ist Polen Mitglied des Schengen-Raums der EU. Den Personalausweis muss man zwar parat haben, aber es wird nur noch in Ausnahmefällen bei der Einreise mit dem Auto kontrolliert.
Währung:
Polnischer Zloty, der fest an den Euro gekoppelt ist; zurzeit knapp 3,6 Zloty für einen Euro
Anreise:
Breslau (www.wroclaw.pl) und die Region Niederschlesien sind von Deutschland aus in wenigen Stunden mit Auto oder Bahn erreichbar. Zahlreiche regelmäßige Zugverbindungen u. a. von Berlin nach Warschau und von Dresden nach Breslau. Breslau hat auch einen internationalen Flughafen (Strachowice, www.airport.wroclaw.pl). Der wird von zahlreichen deutschen Städten aus bedient. Die Fluglinien, die Breslau von Deutschland aus anfliegen, sind Lufthansa (www.lufthansa.com), LOT (www.lot.com), Wizzair (www.wizzair.com), Centralwings (www.centralwings.com) und Ryanair (www.ryanair.com). Hinweis: Der Flughafen in Breslau operiert am Rande der Kapazität und wird in den kommenden Jahren ausgebaut. Deshalb ist besonders frühzeitiger Check-in ratsam.
Infos:
Polnisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 71, 10709 Berlin, Tel. 030-21 00 920, Fax 21 009214, www.polen-info.de
Hotels:
Art Hotel Wroclaw
(www.polhotels.com); das 4-Sterne-Haus mit geschmackvollen Zimmern in stilvoll restauriertem Stadthaus liegt nur 150 Meter vom historischen Rathaus in der City entfernt. DZ ab ca. 85 Euro inklusive Frühstück
Qubus Maria Magdalena
(www.zlotehotele.pl); modernes Vier-Sterne-Haus zentral in der Altstadt mit schicken Zimmern; DZ ab ca. 90 Euro
Hotel Ksiaz:
Zwei- bis Drei-Sterne-Haus auf der Schlossanlage. Eignet sich hervorragend für Konferenzen; altes Hotel geschmackvoll renoviert und modern eingerichtet (www.ksiaz.walbrzych.pl)
Restaurants:
Schweidnitzer Keller
(Wroclaw, Rynek Ratusz 1, Tel. 071-369 95 10; www.piwnicaswidnicka.com); seit 700 Jahren das Traditionshaus in den Kellergewölben des Rathauses; polnische Küche wie aus dem Kochbuch
Ksiazeca
(Tel. 074-840 58 62; auf Schloss Ksiaz); Speisen im historischen Ambiente; gute polnische und internationale Küche, aufmerksamer Service, große Tische und viel Platz
Wer ein paar Tage länger bleibt, darf nicht versäumen, das Umland zu erkunden. Im nahen Riesengebirge, das Deutschen höchstens im Zusammenhang mit Rübezahl und dem höchsten Gipfel, der Schneekoppe, ein Begriff ist, erfährt nicht nur mancher Hamburger, dass hier bei Spindlermühle die Elbe entspringt (allerdings auf der tschechischen Seite des Gebirges). Niederschlesien ist traditionell eine Region zahlreicher Schlösser und ansehnlicher Landsitze. Die Bemühungen sind daher groß, mit ganz unterschiedlichen Nutzungskonzepten den oftmals verfallenen Gebäuden neues Leben einzuhauchen. Drei Beispiele sollen das verdeutlichen:
Provinz und mondäne Historie
Eben noch ist man durch einen kleinen hässlichen Ort gefahren, an dem der polnische Aufschwung vorbeigegangen ist, da erhebt sich vor einem das Märchenschloss Ksiaz auf einem steilen Felsvorsprung. Es ist das größte seiner Art in Niederschlesien und liegt inmitten eines Zauberwaldes. Das Schloss gehörte jahrhundertelang der Adelsfamilie von Hochberg, wurde während des Dritten Reichs zu einem repräsentativen Anwesen für führende Nazis ausgebaut und ist heute Tagungs- und Kongresszentrum sowie für Touristenführungen geöffnet. Die können nicht nur die antiken Stilmöbel in den zahlreichen repräsentativen Räumen bewundern, sondern auch durch ein ausgedehntes Tunnelsystem stolpern, das die Nazis als Waffenlager und experimentelles naturwissenschaftliches Labor benutzt haben. Museumsführer Andrzej Gaik raunt etwas von "geheimnisvollen Atomexperimenten". Kann man nicht so ganz glauben. Klingt aber irgendwie spannend und fördert sicher die touristische Anziehungskraft.
In Kreisau, ehemaliger Landsitz des preußischen Generalfeldmarschalls von Moltke, wartet Arkadiusz Baszczyk. Das 20-jährige Pax-Christi-Mitglied scheint durch seine junge Biografie wie geschaffen für die Mitarbeit in der deutsch-polnischen Gedenkstätte. Er ist in Süddeutschland als Kind polnischer Eltern aufgewachsen und leistet hier ein sehr sinnvolles freiwilliges Jahr. In Kreisau traf sich der großbürgerlich-adlige NS-Widerstand um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg. Heute laufen viele junge Menschen übers Gelände, Schulklassen, Studenten, Azubis, gibt es Übernachtungsmöglichkeiten, Kneipen und Cafés. Inzwischen versucht man der bilateralen Gedenkstätte einen aktuellen Geist einzuhauchen und etwa über türkische Minderheiten in Deutschland oder ukrainische Minoritäten in Polen zu diskutieren, über die Weiterentwicklung Europas und den Frieden in der Welt.
Eine Landpartie der ganz anderen Art, die man auch nie vergisst, offeriert das Schloss Krobielowice. Ein in vielerlei Hinsicht interessantes Beispiel für den Versuch, Landsitze in Hotel-Tempel mit ungewöhnlichem Animationsprogramm zu verwandeln. Club-Hotels auf den Kanaren könnten hier noch einiges lernen.
Außen hui, innen feucht
Die Fassade des ehemaligen ausladenden Gutshofes von Feldmarschall Blücher ist tiptop hergerichtet. Drinnen betritt der Gast dann ein Versuchslabor, das den Aufenthalt in vielerlei Hinsicht zu einem unvergesslichen und spannenden Abenteuer macht. Das beginnt bereits morgens, wenn bei der Zimmernachbarin das Duschwasser einer Mitbewohnerin vom Stockwerk drüber durch die Decke rinnt. Dann muss der erboste Gast den Raum wechseln - und das durchgeregnete Zimmer von polnischen Bauarbeitern renoviert werden, die es ja nicht gibt. Vertrackte Lage.
Auch nachts ein wenig Abwechslung: Lautes Hämmern an der Zimmertür um drei Uhr morgens bedeutet meist nichts Gutes. Diesmal ist es ein verzweifelter Co-Pilot in der Uniform einer großen polnischen Fluglinie, der den Gast mit der verwirrenden Aussage konfrontiert : "I am looking for my pilot."
Der Neun-Loch-Golfplatz präsentiert sich am nächsten Morgen als ökologisch besonders wertvoll. Maulwurfshügel grüßen überall, und auch das Laub bleibt da, wo es zu Boden gefallen ist. Eine naturbelassene Anlage also, die bestimmt bald einen Umweltpreis bekommt.
Vielleicht hilft in solchen Situationen nur noch Beten. Zum Beispiel in der unfassbar schönen Friedenskirche von Jawor (Jauer), die zum Unesco-Weltkulturerbe gehört. Sie ist - man mag es im erzkatholischen Polen kaum glauben - ein evangelisches Gotteshaus, das nach den politisch-religiösen Wirren des 30-jährigen Krieges auf Veranlassung von Kaiser Ferdinand I. errichtet wurde. Die wertvoll bemalten mehrstöckigen Holzlogen erinnern eher an eine Oper als an ein Gotteshaus. Wie nah und doch wie fern sich die beiden Nachbarländer Deutschland und Polen immer noch sind, erkennt man zum Beispiel bei einer Messe. Da kommen zu manchen Kirchenfeiertagen Tausende von Gläubigen zusammen. Und beten mit einer ehrlichen Inbrunst, die auch einen erfahrenen deutschen Reporter sprachlos macht.