Susanne Fuchs hat die Tafel unter den Arm geklemmt, Stifte, Papier und ihre Vesperdose mit Nudelsalat sind im Rucksack verstaut. Vom Bahnsteig 11 des Stuttgarter Bahnhofs beobachtet sie, wie ihr Klassenzimmer in den Kopfbahnhof einrollt. Es hat 26 650 PS und bringt es auf eine Spitzengeschwindigkeit von 320 km/h. Der TGV (Train à grande vitesse), der seit diesem Herbst dreimal am Tag Stuttgart mit Paris verbindet, ist das schnellste Klassenzimmer der Welt. Reisende können in einem abgetrennten Abteil die Grundlagen der französischen Sprache lernen. In Wagen 18, wo normalerweise die Zöllner sitzen, ist heute das Abteil mit seinen acht Sitzplätzen für Frau Fuchs und ihre Schüler reserviert. Kaum hat der TGV den Stuttgarter Bahnhof verlassen, begrüßt der Zugbegleiter die Fahrgäste über den Bordlautsprecher; weist erst auf das Zugbistro und dann auf "einen besonderen Service" hin: "In wenigen Minuten beginnt in Wagen 18 ein Französischkurs für Anfänger."
Schule auf Rädern
www.vhsrt.de Der Kurs findet einmal im Monat an einem Donnerstag im TGV ab Stuttgart um 8.54 Uhr statt. Er kostet 30 Euro pro Person
Da hat Susanne Fuchs bereits ihre Tafel mit Saugnäpfen an das Abteilfenster geheftet, ihre Unterlagen zurechtgelegt und wartet auf die Schüler. Etwas unsicher nähert sich eine Frau: "Ist das hier der Sprachkurs?" Bald sitzt sie mit sechs anderen 2 Reisenden dicht an dicht in den weichen Sesseln, die Schule kann beginnen. Drei Freundinnen auf dem Weg zu einem vergnüglichen Wochenende, zwei Rathausmitarbeiterinnen einer schwäbischen Kleinstadt auf Betriebsausflug und ein Student aus Konstanz, der sich in Paris ein Zimmer für sein Praktikum suchen will, üben sich in den Nasallauten. "Bonjour, je m’appelle Annemarie", sagt die Rathausangestellte fehlerfrei, aber mit dem harten Akzent der Albbewohner, da ist der TGV noch nicht einmal in Straßburg. Die Idee zu diesem Sprachkurs hatte die Volkshochschule in Reutlingen, die bereits seit zehn Jahren Bahnpendlern auf der Strecke nach Stuttgart die Fahrzeit mit Vokabeln und Grammatik verkürzt. Der Deutschen Bahn und ihrem französischen Partner SNCF, die die Route in Kooperation betreiben, gefiel der Vorschlag. Bei einem Testversuch waren die Plätze in wenigen Minuten ausgebucht, seit Oktober gibt es den Sprachkurs ab Stuttgart, zurzeit einmal im Monat.
"Geht doch schon prima"
Allerdings nur in der einen Richtung. Denn beim Versuch, den nach Deutschland reisenden Franzosen im Gegenzug erste Kenntnisse der deutschen Sprache anzubieten, blieb das Abteil leer. Draußen fliegen weiße Charolais-Rinder und Zaunpfosten vorbei, im Zollabteil lernt man die Trinkgeldregel auf Französisch: "Nie dem Kellner das Geld direkt geben, man lässt es auf einem kleinen Teller am Tisch liegen." Lehrerin Fuchs hat die Zahlen eins bis zehn an die Tafel geschrieben. Noch stockend ringen die Kursteilnehmer um die Aussprache: "Vier Eintrittskarten für den Louvre bitte, zwei Erwachsene und zwei Kinder." - "Geht doch schon prima", ermuntert Susanne Fuchs den Studenten, und der strahlt. Kurz vor Paris bestellt "Annemarie d’ Albstadt" ihr erstes Menü auf Französisch: "Une salade de crevettes, s'il vous- plaît." Alle klatschen. Und bekommen zur Belohnung ein Ringbuch mit nützlichen Redewendungen geschenkt. "Gut gegangen", sagt Susanne Fuchs und zeigt auf die bisher von niemandem bemerkten Metallhaken an der Wand des Abteils. "Sollte im Zug jemand verhaftet werden", erklärt Fuchs, "wird er von den Zöllnern hier mit Handschellen festgemacht. Dann muss der Kurs leider ausfallen."