Die einen packt er schon am dritten, die anderen am fünften Tag, und früher oder später kriegt ihn jeder: den Peking-Koller. Ein trotziges Aufbäumen der Seele gegen die krasse Wirklichkeit der Stadt. Bloß raus hier! Irgendwohin, wo es still und grün und heilsam ist.
Es gibt ein solches Anti-Peking, und wundersamerweise liegt es sogar innerhalb des Stadtgebiets, wenn auch im äußersten Nordwesten. Schon sein Name wirkt wie ein Köder: Xiang Shan - der duftende Hügel. Ein amphitheaterartig gewölbter Berg, der fast 600 steile Meter aus der Ebene emporragt. Bis zum ersten Kamm hinauf handelt es sich um einen klassischen Park, der dann in die Naturlandschaft der Westberge (Xi Shan) übergeht. Wandert man weiter nach Nordwesten, stößt man nach etwa 50 Kilometern auf die Chinesische Mauer. Danach kommt ein schmaler Steppengürtel und dann auch schon die Wüste Gobi.
Grüner Wald und magische Steine
Der Xiang Shan aber ist dank der Berge noch üppig grün. Man kann ihn tagelang durchstreifen und immer wieder neue Kleinode entdecken: den Ausblick auf einen fernen roten Pavillon, die Pfauenvoliere, der Glockenturm mit den lasierten Ziegeln, die Muster der Kieswege, der alte tibetische Tempel. Der Xiang Shan verzeichnet weniger Besucher als seine beiden berühmten Nachbarn, die meist vereinfacht als Alter und Neuer Sommerpalast firmieren. Doch selbst in seinen entlegensten Winkeln ist es selten wirklich einsam. Auf einer Felskanzel singt eine Schneiderin mongolische Weisen, in einem abgeschiedenen Tal pflückt eine Damengesellschaft wilde Datteln.
Neben bemalten Pavillons, gewundenen Korridoren und phantastisch geformten Brücken, die sich in ihrem Spiegelbild vollenden, zählen magische Steine zu den wichtigsten Requisiten der chinesischen Gartenkunst. Und so ist denn auch der Xiang Shan mit Felsen aus allen Provinzen des Reiches bestückt. Bizarre Gebilde wie vom Bleigießen, freilich tonnenschwer, rundlich und porös wie Schwämme. Oft stehen sie auf einem Sockel, werden eher als Skulpturen denn als Felsen angesehen. Ihr Diebstahl galt als Kunstraub.
Architektonisches Meisterwerk am Stadtrand
Einen Solitär besonderer Art stellt das Xiang Shan Hotel dar, das wie eine riesige weiße Krabbe am Rande des Parks auf der Lauer liegt. Architekt I. M. Pei, der dem Louvre die gläserne Pyramide bescherte und dem Deutschen Historischen Museum in Berlin einen virtuosen Anbau, lieferte mit diesem Komplex Anfang der achtziger Jahre sein erstes Meisterstück in China. Ein avantgardistischer Wurf, der gleichwohl der Tradition huldigt und vom Grundriss bis zum kleinsten Fenster eine steingewordene Liebeserklärung an die Geometrie darstellt, an die Kraft und Schönheit universeller Grundformen wie Kreis, Dreieck und Viereck.
Vom weiträumigen Lichthof im Zentrum aus führen die vier Seitenflügel in lauschige kleine Gärten hinein. Sie bilden einen Park im Park, einen Mikrokosmos chinesischer Gartenkunst. Etwa 20 Arrangements reihen sich kaleidoskopartig aneinander. Sie tragen Titel wie "Teich der fließenden Farben", "Tönende Quelle", "Fliegender Felsen" oder "Steinerner Wald".
In Maos letztem Hauptquartier
Schon vor 800 Jahren pflegten buddhistische Mönche hier ihre Rituale, später weilten Chinas Kaiser zur Jagd. Selbst der große Vorsitzende Mao konnte sich dem Zauber des duftenden Hügels nicht entziehen: Von einer nahegelegenen Villa aus verhandelte er Anfang 1949 die Übergabe der Stadt und dirigierte die letzten, entscheidenden Feldzüge in Zentralchina aus der Ferne. Vergilbte Generalstabskarten und abgewetzte schwarze Ledersofas vermitteln dort bis heute etwas vom asketisch-autoritären Stil der vierziger Jahre.
Das Hotel selbst verkörpert den Geist der Achtziger, die Aufbruchstimmung und Neubesinnung nach dem Debakel der Kulturrevolution. I. M. Pei, der sich damals längst in Amerika einen Namen gemacht hatte, benannte zwei ästhetische Systeme als seine wichtigsten Inspirationsquellen. Zum einen die Bauhaus-Schule - er hatte von Gropius und Breuer noch selbst die höheren Weihen empfangen. Zum anderen die chinesische Gartenkunst, die er vor allem in Suzhou im Delta des Jangtsekiang lieben gelernt hatte. Beide Formsprachen vereint das Hotel in einer erstaunlichen Synthese, die wohl nur ein Chinese zustande bringen konnte.
Obwohl seither in Peking Dutzende pompöser Luxushotels in den Himmel schossen, ist das Xiang Shan eines der wenigen Häuser mit eigenständiger Handschrift geblieben. Und ein ideales Refugium für gestresste Besucher. Statt dem Lärm der Metropole lauschen sie hier den Lockrufen unbekannter Vögel. Die meisten Pflanzen wirken dagegen vertraut. Kein Wunder, stammt doch manche Zier europäischer Gärten aus China: Chrysanthemen und Hibiskus, Azaleen, Pfirsichbäume, Anemonen. Und natürlich die Trauerweide, der "Geisterbaum". Ansonsten dominieren mächtige Pinien, die wie auf alten Rollbildern ihre knorrigen Äste in die Weite strecken. Streifenhörnchen huschen über die jadefarbenen Steinplatten am Fuß des Jahreszeiten-Tempels. Aus einem Kiosk perlen die kristallinen Kaskaden einer Gu Zheng, einer gewölbten Zither. Wer durch diesen Zaubergarten wandelt, vergisst Raum und Zeit.