Herr Werle, wie lange haben Sie an dem Manuskript zu Ihrem Buch gearbeitet und wie oft haben Sie es korrekturgelesen?
Ziemlich lange, weil ich es vor allem abends und an Wochenenden geschrieben habe. Insgesamt waren es bestimmt neun Monate, und natürlich habe ich es vielfach durchgelesen. Trotzdem sind noch kleine Fehler drin, zum Beispiel bei der Nummerierung einiger Fußnoten – was natürlich einem echten Perfektionisten nicht passieren darf.
Sie haben also ein Buch gegen den Perfektionswahn geschrieben und trotzdem versucht, ein perfektes Buch abzuliefern.
Ja, das gebe ich zu. Aber das Buch war durchaus eine Art Selbsttherapie, vor allem was Entscheidungen angeht. Ein Teilproblem der Perfektionierung ist, dass man immer das Beste aus seinen Chancen und Ressourcen machen will und darüber verpasst, überhaupt mal eine Entscheidung zu treffen. Nach dem Buch habe ich für mich beschlossen, meine Entscheidungen mal häufiger aus dem Bauch heraus zu treffen, nicht so lange immer das Für und Wider abzuwägen – und generell ein bisschen entspannter zu sein.
Ihre Botschaft lautet ja auch: Entspannt Euch und seid nicht dauernd solche Perfektionisten. Heißt das, dass ich jetzt lieber ein bisschen abhängen sollte? Mehr Kneipe, weniger Abendschule?
Nein, es geht explizit nicht darum, die Füße hochzulegen oder zum Schafezüchten nach Neuseeland auszuwandern, sondern darum, dass man dem Perfektionismus eine Absage erteilt, der sich als Ansprüche von außen manifestiert. Studenten beispielsweise schielen darauf: Was will die Wirtschaft in fünf Jahren, wenn ich fertig bin? Welche Praktika sind gefragt? So arbeiten die Anforderungskataloge ab, ohne sich zu überlegen, was sie selbst gut können und woran sie Spaß haben. Das zieht sich durch alle Lebensbereiche. Aber es geht darum, sich nicht nach externen Vorgaben zu orientieren und nicht auf allen Feldern gut sein zu wollen. Klingt banal, aber ich glaube, dass viele Leute damit ein Problem habe – unter anderem auch ich.
Studenten werden inzwischen schon mit dem Bachelor- und Mastersystem auf Effizienz getrimmt, nach der Uni treffen sie auf Personalchefs, die sich von 25-Jährigen nicht nur Auslandserfahrung sondern möglichst auch noch einen Doktortitel wünschen. Wie soll man es sich erlauben, in so einer Leistungsgesellschaft nicht perfekt sein zu wollen?
Ich glaube, es ist einfacher als gedacht – und vor allem wichtiger als gedacht. Als Redakteur für das Manager Magazin höre immer wieder, dass sich Personaler darüber beklagen, dass alle ihre Bewerber zwar toll, aber auch ähnlich und stromlinienförmig sind. Ich glaube, was die Wirtschaft künftig brauchen wird und womit der Einzelne künftig punkten wird, ist kein abgearbeiteter Katalog, sondern dass man kreativ ist, seinen eigenen Kopf hat und seine eigene Meinung sagt.
Wie kriegt man denn diese Individualität überhaupt hin?
Ich habe ja in dem Buch betont, dass es sich um keinen Ratgeber handelt. Die sind selbst Teil des Problems, weil sie uns vorgaukeln: Du kannst alles erreichen, wenn Du nur Punkt eins bis zehn abarbeitest. Ich glaube, das Wichtigste ist, dass man sich von dem Gedanken verabschiedet, an seinen Schwächen zu arbeiten. Bis zu einem gewissen Niveau allgemeiner Fähigkeiten ist das auch richtig, aber darüber hinaus ist es viel klüger und effizienter, die eigenen Stärken auszubauen, als sich an den Schwächen abzuarbeiten. Die Coachin Dorothee Echter formuliert das so: Lieber Weltmeister in einer Sache, als Kreisliga in vielen. Und ein ehemaliger Aldi-Manager hat mal den Satz geprägt: Spitzenrestaurants haben kleine Karten.
Ist der Drang, besser zu werden, nicht etwas zutiefst Menschliches?
Einerseits schon. Andererseits kann ich heute in sozialen Netzwerken wie Xing oder Facebook viel besser schauen, was aus meinen Mitschülern oder Kommilitonen geworden ist. Dabei frage ich mich dann: Warum habe ich das nicht geschafft, was die erreicht haben? Vor allem aber haben wir seit Mitte des letzten Jahrhunderts eine soziale Mobilität, die – gefühlt – sehr hoch ist. Mann muss ja heute nicht mehr Schuster werden, nur weil der eigene Vater auch Schuster ist. Heute kann man theoretisch alles werden, bis hin zum Vorstandsvorsitzenden vom Dax-Konzern oder zum Superstar bei RTL. Dass einem also alle Wege theoretisch offen stehen, erhöht den Druck, was daraus zu machen. Jeder IT-Student muss sich heute fragen: "Warum bin ich eigentlich nicht der neue Bill Gates?"
Aber die Möglichkeiten, Karriere zu machen, haben sich doch auch verbessert.
Die realen Aufstiegschancen sind gar nicht größer geworden. Viele Studien zeigen, dass die Chancen, von der Unter- in die Mittelschicht und von dort in die Oberschicht aufzusteigen, sogar geringer geworden sind. Es ist für uns genauso unrealistisch, so reich wie Bill Gates zu werden, wie es damals unrealistisch war, so reich wie Ludwig XIV. zu werden. Aber wir glauben, dass es einfacher ist, und deswegen strengen wir uns mehr an.
Was haben Sie dagegen, wenn man ein Ziel im Leben hat, für das man sich ins Zeug legt?
Nichts. Bloß wenn man alles perfekt macht, hat man das gute Gefühl, nichts falsch gemacht zu haben. Das heißt, Perfektion ist in erster Linie eine Strategie zur Vermeidung von Risiken. Aber gerade das hindert einen daran, sich wirklich weiterzuentwickeln, denn man lernt ja vor allem aus seinen Fehlern. Der Harvardprofessor Tal Ben-Shahar sagt dazu: "Lerne zu scheitern, oder Du scheiterst beim Lernen."
Perfektion ist also eine milde Art von Feigheit?
Wieso mild? Man kann schon sagen: Wer überall perfekt sein will, ist bloß feige, weil er ja vermeidet, sich zu fragen: Wofür stehe ich selbst?
Vielleicht sind Perfektionisten feige, aber sie haben immerhin Erfolg!
Es gibt eine Kurve von zwei US-Psychologen, die Yerkes-Dobson-Kurve, wonach Engagement und Fleiß nur bis zu einem gewissen Grad zu höherer Effizienz und besserer Leistung führen. Ab dem Scheitelpunkt strenge ich mich zwar mehr an, werde aber ich nur noch gestresster. Das Streben nach Perfektionismus kann uns sogar blockieren, vor allem, wenn andere dabei sind, die noch besser sind. Man sollte ja glauben, dass uns das anspornt, aber tatsächlich haben Studien gezeigt: Wenn Tiger Woods bei irgendeinem Golfturnier mitspielt, spielen die anderen hervorragenden Golfer viel schlechter als üblich.
Das sind doch Leute, die es in ihrem Metier schon an die Spitze geschafft haben.
Dann nenne ich ein anderes Beispiel: Man hat Versicherungsvertreter in zwei Gruppen eingeteilt und der einen Gruppe eingebimmst, dass jeder sich Erfolge selbst zuzuschreiben hat und für Misserfolg die Umstände, beispielsweise die Kunden, verantwortlich sind. Die Leute, die sich das haben einreden lassen, waren letztlich viel erfolgreicher als die Teilnehmer der anderen Gruppe. Sie waren einfach überzeugt, dass sie das Richtige tun, und sie haben sich nicht an dem orientiert, was andere von ihnen erwartet haben.
Trotzdem tun wir uns schwer damit, Fehler bei uns und bei anderen zu akzeptieren.
Es hat auch gesellschaftliche Folgen, wenn aus dem Hang zur Perfektion ein Zwang wird. Es gibt ein gesellschaftliches Klima - Stichwort Westerwelle und spätrömische Dekadenz - wo das Scheitern nicht mehr dazu gehört. Es gibt eine Intoleranz gegenüber dem Scheitern, weil uns eigentlich alle Wege offen stehen. Wer es nicht schafft, der hat sich nach der herrschenden Meinung nicht genügend angestrengt und ist selbst schuld.
Wir setzen mit unserem Streben nach Perfektion nicht nur uns selbst unter Druck, sondern terrorisieren auch noch andere?
Ja, das ist jetzt krass formuliert, aber im Prinzip stimmt es.
Klaus Werle: Die Perfektionierer. Warum der Optimierungswahn uns schadet - und wer wirklich davon profitiert. Erschienen 2010 im Campus-Verlag. ISBN 978-3-593-39093-2
Klaus Werle
privat Klaus Werle, Jahrgang 1973, studierte Geschichte, Anglistik und Germanistik in Heidelberg und an der University of Exeter und ist Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule. Er schrieb unter anderem für Spiegel, Stern, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau und Merian. Seit 2004 ist er beim manager magazin Redakteur für die Ressorts Trends und Karriere. Die Perfektionierer ist sein drittes Buch.