Angst und Freude, Schrecken, Staunen und Enttäuschung - Emotionen sind so alt wie die Menschheit. Eine Vielzahl von Muskeln zeichnet diese Regungen in jedes Gesicht, ob Greis oder Säugling. Seit Jahrhunderten fasziniert und beschäftigt die Deutung unserer Gefühle Gelehrte weltweit.
Inspiriert durch Lavaters "Essai sur la physiognomie" erforscht 1856 auch der Pariser Arzt Dr. Guillaume Benjamin Armand Duchenne die wortlose Sprache der Emotionen. Sein Werkzeug: Strom. Denn, so seine These, wenn Muskeln für die Mimik verantwortlich sind, dann müsste man doch durch gezielte Stimulation der Selben jede gewünschte Emotion sichtbar machen können.
Zwischen Medizin, Kunst und Freakshow
Also experimentiert der Physiologe mit Elektroden, die er seinen Probanden ansetzt, um die gewünschte Regung zu erzielen. Als Mittel zur Dokumentation seiner Versuche wählt Duchenne die Fotografie. Das kürzlich entwickelte Nasskollodiumverfahren mit seiner detailreichen Wiedergabe und den neuerdings möglichen kurzen Belichtungszeiten ist für seine Zwecke ideal. Rund einhundert Aufnahmen entstehen so Mitte des 19. Jahrhunderts: handwerklich präzise, nüchtern dokumentierend und doch bizarr. Das bekannteste Bild des Zyklus zeigt den Wissenschaftler, während er mit zwei Elektroden an den Wangen seines Probanden - eines ehemaligen Schusters, dem Duchenne eine "leichte Anästhesie im Kopfbereich" bescheinigt - "Freude" erzeugt.
Der neutrale Hintergrund konzentriert den Blick des Betrachters auf die beiden Abgebildeten. Das Hemd weit aufgeknöpft, sitzt der Schuster rechts im Bild. Zwei Elektroden legen tiefe Falten über die Wangen, der Mund ist zu einem Grinsen geformt, der Blick geht geradeaus. Links daneben der Wissenschaftler, nach rechts schauend - ernst, stolz, ein wenig eitel. Ist das wirklich "Freude"? Oder doch eher Schmerz? Ein Bild zwischen Medizin, Duchenne forscht schließlich, Kunst, handwerklich ist es ein schönes Bild und Freakshow -, denn unweigerlich denkt man an Frankenstein oder Jahrmarktzelte.
Durst nach Pioniertaten
Es ist ein Jahrhundert der Pioniertaten. Zahllose Erfindungen bringen industrielle Revolution und Fortschritt, Expeditionen dringen in die entlegensten Winkel der Welt vor. Pioniertaten sind in Mode, wer als Gelehrter etwas auf sich hält, experimentiert. So auch Duchenne de Boulogne: Mit seinen Versuchen und ihrer akribischen fotografischen Dokumentation hofft er, gleichermaßen in die Geschichte der Fotografie wie die der Wissenschaft einzugehen. Fotografien zur Aufzeichnung von Forschungsergebnissen einzusetzen, ist keine neue Idee.
Leon Foucault hatte bereits 1844 mit dem Mikroskop Daguerrotypien (Aufnahmen auf versilberten Kupferplatten) erstellt, handtellergroß und nicht reporduzierbar. Aber Duchene begreift das Potential als erster und schöpft es voll aus. Er arbeitet konzeptionell: Immer mit ähnlichem Licht, den gleichen Probanden und nach einem festen Schema entstehen zahlreiche Aufnahmen. Mit dieser Vergleichbarkeit schaffenden Arbeitsweise setzt der Pariser Physiologe Maßstäbe in der wissenschaftlichen Dokumentation und schafft, ganz nebenbei, wunderbar skurrile Bilder. Sein Durst nach Pioniertaten dürfte gestillt worden sein.