Es war eine alte Frau, die am vergangenen Wahlsonntag stern-Reporter Christoph Reuter in Bagdad ihren mit violetter Tinte gezeichneten Finger entgegenhielt - der Markierung, die mehrfache Stimmabgabe verhindern sollte: "Ich habe gewählt!", rief sie. "Zum ersten Mal in meinem Leben. Ich bin 77 und habe lange auf diesen Tag gewartet!" Sonst traue sie sich kaum aus dem Haus, "aber wir wollen doch eine gute Regierung und in Frieden leben". Dafür sei dieses Wagnis gerechtfertigt. Zu einer Wahl zu gehen, deren Gegner die Straßen im Blut ertränken wollten. Zu Fuß, der Autoverkehr war aus Angst vor Anschlägen untersagt, machte sich Reuter auf den Weg zum Wahllokal in der Nidhamiya-Schule. Drei Checkpoints hatte die Polizei dort errichtet, den ersten 250 Meter entfernt, und tonnenschwere Betonbarrikaden vor der Schule. Kurz vor Schließung des Wahllokals um 17 Uhr zählte die Wahlleitung durch: 1700 von 2967 Wahlberechtigten haben ihre Stimme abgegeben, es war eine friedliche Wahl im Wahllokal 66001 in Badawin, Bagdad-Mitte. Anderswo ging der Terror weiter. Acht Selbstmordattentate gab es allein in Bagdad, rund 40 Menschen starben landesweit. Nach anderthalb Jahren der Schreckensmeldungen aus dem Irak, wo es immer unübersichtlicher wird, wer warum wen umbringt, sind die acht Millionen Iraker, die sich an die Urnen getraut haben, die erste fundamental gute Nachricht. Es ist ein erster Schritt, ein Anlass zur Hoffnung - auch wenn dies nichts daran ändert, dass die Versorgungslage in weiten Teilen des Landes nicht besser, sondern schlechter wird; daran, dass die Auseinandersetzungen zwischen irakischen Politikern eher einer Vendetta unter Mafiapaten gleichen als einer politischen Willensbildung; daran, dass der Verbleib der US-Truppen nur den Widerstand gegen sie anstachelt, ihr Abzug aber die Gefahr des Bürgerkriegs dramatisch erhöhen würde; und schließlich daran, dass die Machtkämpfe um Öl und Land zwischen Kurden und Turkmenen, Schiiten und Sunniten gerade erst anfangen. Das Wahlergebnis dürfte die Macht der Schiiten vorerst zementieren. Die Sunniten, die unter Saddam Hussein das Land dominierten, befolgten vielerorts die Boykottaufrufe. Jetzt bilden sie die Opposition ohne Stimme in der neuen verfassungsgebenden Versammlung. Aber mit einem Top-Terroristen Sarkawi in ihren Reihen, der glaubt, auch im Sinne der Sunniten zu sprechen und zu morden. Der Wahnsinn des alltäglichen Terrors wird also weitergehen. Auch wenn die Wahlen gezeigt haben, dass es Millionen Iraker gibt, die diese Konflikte friedlich lösen wollen. Und die deshalb ihre Stimme unter Lebensgefahr abgegeben haben. Seit Monaten sprengen Selbstmordattentäter nicht nur Amerikaner, sondern auch ihre eigenen Landsleute in die Luft - vor allem: Polizisten. Mit dieser Terror-Taktik sollen junge Iraker vom Polizeidienst fern gehalten werden. Dennoch melden sie sich scharenweise für diesen lukrativen Job. In Bagdad recherchierte Christoph Reuter, der nach dem offiziellen Kriegsende ein Dreivierteljahr dort gelebt hat, den Kampf der Ordnungshüter an allen Fronten. Mit Vollbart, die Brille gegen Kontaktlinsen und die Laptoptasche gegen eine Plastiktüte eingetauscht, hat er kurz vor der Wahl zwei Wochen lang die Mannschaft einer Bagdader Polizeiwache im schiitischen Armenviertel Sadr City begleitet. Erfreuliches in eigener Sache: Der stern baut seine Marktführerschaft als meistgelesenes aktuelles Wochenmagazin weiter aus: 8,01 Millionen Menschen lesen den stern. Damit legt der stern als einziges der aktuellen Wochenmagazine zu. "Focus" erreicht 5,87 Millionen Leser, der "Spiegel" folgt mit 5,69. Das ergab die neueste Media-Analyse, mit der die Reichweiten der Pressemedien erhoben werden - vergleichbar mit den Quotenmessungen für Fernsehen und Rundfunk. Wir freuen uns über die große Resonanz bei Leserinnen und Lesern und danken für das Vertrauen.
Andreas Petzold, Chefredakteur