Editorial Klischee-Klumpen im Magen

Liebe stern-Leser! "Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!" Als Willy Brandt diesen Jubelsatz

Liebe stern-Leser! Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört!“ Als Willy Brandt diesen Jubelsatz einen Tag nach dem Mauerfall vor dem Schöneberger Rathaus ausrief, entsprang dies einer Mischung aus Hoffnung und Gewissheit. Gewachsen ist bislang nur das Gras auf dem 1378 Kilometer langen Todesstreifen. Bis heute ballen sich Vorurteile und Missverständnisse zu einem unver-daulichen Klumpen, der Ossis und Wessis schwer im Magen liegt. Diese lieb gewonnenen Klischees dienten auch als Vorlage für unsere Titelgeschichte. Denkt beispielsweise ein Bayer an einen Ossi, geht die Assoziation so: Steuergeldvernichter, autoritätshörig, unselbstständig, jammert dauernd und kommt nicht aus dem Knick! Denkt ein Dresdener an einen Wessi, kommt dies heraus: Selbstdarsteller, gefühlskalt, Trickser, Alleskönner, erzeugt Wirbel, aber keine Wirkung! An dieser Stelle muss man immer die Reset-Taste drücken und sich darauf besinnen, was die Vereinigung wirklich gebracht hat: Das Ende des Ost-West-Konfliktes, eingeläutet durch die Courage der DDR-Bürger. Die freie Selbstbestimmung für 16 Millionen Menschen. Nicht schlecht. Aber für viele nicht mehr viel wert, wenn sich gerade mal die Hälfte aller Wahlberechtigten dafür interessiert, wer regieren soll? Vor allem wollen die Ossis nicht dauernd in Demut und Dankbarkeit erstarren, wenn ihnen dieser „Befreiten-Status“ (Handball-Star Stefan Kretzschmar, Magdeburg) unter die Nase gehalten wird. Sonntagsredner und Brückenbauer würden jetzt sagen: Da wir ja alle weit gehend denselben Wortschatz benutzen, sollten wir einfach mehr miteinander reden. Das Problem ist nur, dass dadurch die Vorurteile meistens bestätigt werden. Denn wenn Ossis und Wessis das Gleiche sagen, meinen sie noch lange nicht dasselbe. Man benutzt die jeweils andere Seite als Beleg für irgendwelche Fehlentwicklungen und pflegt weiterhin sein Feindbild. Offenbar existiert nach wie vor ein tief greifendes Kommunikationsproblem. Auch das erklärt uns stern-Reporter Holger Witzel, 33, in der Titelgeschichte dieser Ausgabe (Seite 40 in der Printausgabe). In dem Spiegel, den er uns Wessis vorhält, sehen wir gar nicht gut aus. Witzel schreibt seit 1996 für den stern. Er stammt aus Leipzig und lebt dort mit seiner Familie. Gemeinsam mit der Fotografin Ute Mahler, 52, die aus Thüringen stammt, stellte er fest, dass vielen seiner Landsleute, die es inzwischen zu nationalen Berühmtheiten gebracht haben, ihre Andersartigkeit heute bewusster ist als noch vor fünf Jahren. Aber vor allem unter denen, die im Westen leben, gab es auch welche, die nicht zu ihrer Ost-Biografie stehen wollten. Sie hatten Angst, im stern als Ossi geoutet zu werden: „Um Gottes willen, ich hab hier schon so genug Probleme!“ Vielleicht wird Willy Brandt irgendwann Recht behalten. Aber es ist ein Generationenprojekt. Mindestens.

Herzlichst Ihr Andreas Petzold