Zwei Seiten hat das Schreiben an die "lieben Mitglieder des Parteivorstands"; es kommt von Historikern, die der Sozialdemokratie wohl gesonnen sind. Aber leider müssen sie der SPD mit ihrer Forderung nach einem neuen Kurs in der Russlandpolitik richtig weh tun. Verstehen lässt sich das nur mit einem Blick in die Seele der Partei, die zwar nicht die größte, aber die stolzeste in Deutschland ist. Und zwar mit jedem Recht. Weshalb es auch erlaubt sei, ganz kurz ein paar Generationen zurückzublenden.
Als die Nazis 1933 die Republik von Weimar zerschlugen, waren es Sozialdemokraten, die ihnen mutig entgegentraten: "Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht", sagte der große Otto Wels vor der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes im Reichstag. Die SA war da schon im Saal. Wer körperlich spüren möchte, was es heißt, mit Haut und Haaren einer großen Sache zu dienen, der kann sich bis heute die Tonbandaufnahme anhören.
Oder die Bilder anschauen, wie Willy Brandt, der als junger Mann aus Hitlers Reich geflohen war, am Ehrenmal für die Toten des Aufstands im Warschauer Ghetto auf die Knie fällt. Für die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern im Osten bekam er den Nobelpreis. Bis heute wärmt nichts das Herz der ältesten deutschen Partei so, wie die Gewissheit, öfter als die gesamte politische Konkurrenz auf der richtigen Seite der Geschichte gestanden zu haben.
Putin ist ganz anders als Breschnew
Und nun also Putin und sein Angriffskrieg gegen die Ukraine. Alles ist anders als zu Zeiten des Kalten Krieges. Damals wollten die Sowjetführer, dass ihre Macht in Europa zementiert wird, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen Grenzen anerkannt werden. Putin aber will Grenzen neu ziehen, Nachbarn unterwerfen, verlorene Einflusszonen zurückgewinnen. Ausgerechnet das romantische Verhältnis zur Friedenspolitik von Brandt und dessen Freund Egon Bahr erschwert es der SPD nun, einen konsequenten Kurs gegenüber Russland zu finden. Die Kritik der Geschichtsprofessoren um Heinrich August Winkler zielt genau darauf. Das falsche Bild russischer Politik und russischer Interessen schaffe "eine gefährliche, weil irrige Basis auch für die künftige Außenpolitik", schreiben sie. Es mache die Partei unglaubwürdig und angreifbar.
Winkler und seinen Mitstreitern und Mitstreiterinnen geht es nicht darum, Brandt und Bahr zu verdammen. Sondern um eine Neubewertung ihrer Politik insbesondere nach den gemeinsamen Zeit in der Bundesregierung. In den 80er-Jahren setzte Brandt – und noch mehr Bahr – darauf, den Frieden vor allem durch Dialog und Zusammenarbeit mit Moskau, Warschau und Ost-Berlin zu sichern. Als in Polen die Gewerkschaft Solidarność 1980 gegen das Regime aufbegehrte, war für Bahr klar, dass die Sowjetunion das Recht habe, dagegen auch mit militärischer Gewalt vorzugehen. Der Historiker Winkler hat darauf bereits im vergangenen Jahr in einem klugen Beitrag zum 60. Jahrestag von Bahrs berühmter "Wandel durch Annäherung"-Rede in Tutzing hingewiesen. Winkler hält Bahr für einen "linken Nationalisten", dessen Forderungen gelegentlich die der Nationalisten vom anderen Ende des politischen Spektrums berührt hätten und der sich "gravierende Fehleinschätzungen" geleistet habe.
Verhaftet, vergiftet, vertrieben: So riskieren die Gegner von Putin ihr Leben

Der 40-Jährige ist einer der erfahrensten und am besten vernetzten Aktivisten der russischen Opposition. Der gebürtige Moskauer ist schon seit Anfang der 2000er-Jahre in verschiedenen Anti-Kreml-Parteien und Widerstandsbewegungen aktiv. Während der Protestbewegung nach der Parlamentswahl 2011 hatte Jaschin eine viel beachtete Beziehung mit der Moskauer Party-Königin Xenia Sobtschak, die sich der Opposition zugewandt hatte. Jaschin äußerte heftige Kritik am Angriff auf die Ukraine, wofür er 2022 festgenommen wurde. Das Urteil: achteinhalb Jahre Gefängnis für das Verbreiten angeblich "falscher Informationen" über die russischen Streitkräfte.
Wissenschaftler üben Kritik am Russlandkurs der SPD
Auch der Rest der deutschen Politik hat Grund genug, seine Russlandpolitik der vergangenen Jahrzehnte zu hinterfragen. Aber nur bei den Sozialdemokraten geht es dabei um große Gefühle, um ihre in Jahrzehnten geformte Identität. Dass Gerhard Schröder noch immer mit Putin befreundet sein will – geschenkt. Aber dass Brandt und Bahr nicht mehr ganz und gar und in jeder Lage als Vorbilder taugen? Das tut weh. Es ist wie eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt – zu lange hinausgezögert und unvermeidlich, mit einem Operateur, der so mitfühlend wie entschlossen ist. Der Brief der Historiker liest sich wie eine Aufklärung über Risiken und Nebenwirkungen: Die SPD müsse begreifen, "dass Putin nur dann ein Interesse daran hat, diesen Krieg zu beenden, wenn ihm die notwendige Stärke entgegengesetzt wird". Die "Realitätsverweigerung" der Sozialdemokraten aber sei hochgefährlich.