Fried – Blick aus Berlin Ampel-Politiker schreiben gerne Briefe. Geheim bleibt dabei selten etwas

Christian Lindner schreibt im Parlament
Der schreibende Finanzminister
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Wer schreibt, der bleibt, heißt es. Unser Autor hat seine Zweifel, ob das in der Form auch für die Ampel-Koalition gilt. 

Die Germanistin Tanja Reinlein hat 2003 eine Dissertation über den Brief als Medium der Empfindsamkeit veröffentlicht. Darin widmete sie sich Briefen "vor allem in ihrer Funktion als literarische Medien", wie der Verlag mitteilte. Das bedeute, Briefe als Medien zu betrachten, "die Räume der Selbstinszenierung eröffnen und damit die Konzeptualisierung von Ich-Identität im performativen Prozess allererst ermöglichen".

Wenn Sie ein wenig politisch denken, fallen Ihnen zu diesen Begriffen auch ohne tiefere Kenntnis ihrer literaturwissenschaftlichen Bedeutung bestimmt ein paar Namen ein. Wer dächte bei Empfindsamkeit nicht an Robert Habeck? Wer bei Selbstinszenierung nicht an Christian Lindner? Wer bei Ich-Identität nicht an Marie-Agnes Strack-Zimmermann? Und wer bei Konzeptualisierung nicht an Olaf Scholz, weil es ja auch ein Wort ist, das man nicht gleich versteht? Und wie es der Zufall will, sind alle vier leidenschaftliche Briefeschreiber.

Wohl noch nie hat eine Koalition Briefe derart zu einem literarischen Medium gemacht wie die Ampel, jedenfalls in dem Sinne, dass Briefe gar nicht erst einem Adressaten vorbehalten waren, sondern immer gleich für das große Publikum geschrieben wurden. Die Ampel hat das Briefgeheimnis nicht angetastet, sie hat sich darüber hinweggesetzt. Sie hat das öffentliche Briefeschreiben in einer Weise gepflegt, die eigentlich nach einer Fortsetzung der Arbeit von Frau Dr. Reinlein verlangt.

Die Mutter aller Ampel-Briefe

In der Sommerpressekonferenz 2022 wurde Olaf Scholz nach seiner Richtlinienkompetenz und ihrer Bedeutung gefragt. "Es ist gut, dass ich sie habe", antwortete der Kanzler. "Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: 'Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende.'" Einige Wochen später tat er genau das. Qua Richtlinienkompetenz dekretierte er per Brief an alle beteiligten Minister die Restlaufzeit von drei Atomkraftwerken. "Bitte tun Sie das Folgende", jetzt sogar in konkret. Es war ein Machtwort, das der Kanzler einfach hätte aussprechen können, das er aber, weil es öffentlich dokumentiert werden sollte, schriftlich festhielt – die Mutter aller Ampel-Briefe.

Einige Zeit später nutzte dann Christian Lindner die Räume der Selbstinszenierung im performativen Prozess, als er sich im Februar 2023 in einem Briefwechsel über Sparvorgaben mit Robert Habeck auseinandersetzte: "Mit Erleichterung habe ich aufgenommen, dass die von den Grünen geführten Ministerien das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland nicht in Frage stellen", formulierte Lindner in gedrechselter Süffisanz, die ganz gewiss nicht nur den sehr geehrten Herrn Kollegen beeindrucken sollte. Selbstverständlich fand der Brief quasi per Expresszustellung auch den Weg an die Öffentlichkeit.

Kürzlich haben sich nun die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, und Bundestagspräsidentin Bärbel Bas in mehreren Schreiben und anschwellender Schärfe darüber auseinandergesetzt, warum an einer geheimen Sitzung des Ausschusses zur Taurus-Problematik sage und schreibe 105 Personen teilgenommen hatten. So heftig entwickelte sich der Streit über die Briefe, dass der sozialdemokratische Abgeordnete Joe Weingarten sich dazu veranlasst gesehen haben soll, Strack-Zimmermann eine "Großkotz"-Attitüde vorzuwerfen.

Wer schreibt, der bleibt, heißt es. Für die literarische Ewigkeit mag das stimmen. Aber gilt es kurzfristig auch für die Ich-Identität der Koalition?

Erschienen in stern 15/2024