Editorial Oberflächlicher Hausputz

Es ist zwar beruhigend, dass Gerhard Schröder die SPD-Linke und die Gewerkschaften in den Schwitzkasten nimmt, um seine Reform-"Agenda 2010" durchzusetzen. Aber man soll den Kanzler nicht vor dem Abend loben.

Liebe stern-Leser!

Es ist zwar beruhigend, dass Gerhard Schröder die SPD-Linke und die Gewerkschaften in den Schwitzkasten nimmt, um seine Reform-"Agenda 2010" durchzusetzen. Aber man soll den Kanzler nicht vor dem Abend loben. Hat er doch in seiner Regentschaft allzu oft wieselflink die Positionen gewechselt.

Immerhin - Schröders Reförmchen machen ein wenig Hoffnung. Der Popanz allerdings, der nun mit der aufbrausenden Debatte um das hochtrabende Etikett "Agenda 2010" aufgebaut wird, ist absurd, den Regierenden aber ganz recht. Denn der Wähler gewinnt den Eindruck, es ginge um alles oder nichts: Wenn der Kanzler sich auf dem Parteitag am 1. Juni durchsetzt, dann geht´s uns allen bald besser.

Dabei sind die Änderungen bei Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Krankengeld und Kündigungsschutz nur eine zaghafte und verspätete Reaktion auf den demografischen Wandel. Damit lässt sich noch kein neues Fundament für die soziale Sicherheit von morgen gießen. Bleibt es dabei, wäre das wie ein oberflächlicher Hausputz an einer Sozialstaat-Ruine, die eigentlich ein Fall für die Abrissbirne ist.

Wir brauchen steuerfinanzierte Grundsicherungsmodelle mit breiter Beteiligung der Bevölkerung wie in europäischen Nachbarstaaten. Der Staat müsste deutlich mehr Eigenverantwortung an die Bürger zurücküberweisen. Zudem sollte die letzte Stufe der Steuerreform 2005 vorgezogen werden, um der Wirtschaft frische Impulse zu geben. Schließlich: Die Lohnnebenkosten müssen gedrückt werden, damit Arbeit wieder erschwinglicher wird. Zu all dem gibt es Expertisen auf Tonnen von Papier, nur keine Entscheidungen. Aber ohne Wachstum kein Sozialstaat und keine neuen Arbeitsplätze.

Selbstverständlich ist SPD-Fraktionschef Franz Müntefering in dem Gespräch mit stern-Autor Arno Luik davon überzeugt, dass die Agenda "Wachstum, Wohlstand sichert und auch Arbeitsplätze schafft". Dabei wissen er und sein Kanzler sehr wohl, dass diese Notfallmaßnahme in erster Linie überbordende Sozialkosten eindämmt, aber kaum neue Arbeitsplätze hervorzaubert. Doch jetzt müssen sie ihrer Partei erst einmal Zeit geben, diesen Brocken zu verdauen.

Die SPD-Linke und die Gewerkschaften kauen schwer daran, weil sie einem Missverständnis aufsitzen: Sie glauben immer noch, die Partei hätte die Bundestagswahl gewonnen und sie müssten den sozialen Status quo jedes Wählers verteidigen. Dabei verdankt die Sozialdemokratie Schröders knappen Erfolg nur seinem Instinkt für die richtigen Themen zur richtigen Zeit. Keineswegs aber der Hoffnung, dass sich nichts verändert.

Der Zoff da oben in Berlin wird die da unten, die im Arbeitsamt Schlange stehen, kaum kümmern. Sie warten auf Beschäftigung - und sind frustriert über die Arbeit der politischen Kaste. Und die Schlange dürfte eher länger als kürzer werden, denn überall in der deutschen Wirtschaft wird Personal ausgekehrt - mit immer raffinierteren, aber auch rabiateren Methoden, wie unsere Titelgeschichte schildert.

Die Agenda 2010 ist ein längst überfälliger Anfang, aber noch immer kaum mehr als die Skizze für den langen Weg bis zum Jahr 2020, wenn nur noch jeder fünfte Erwerbstätige unter 30 ist. Wie lassen sich dann Arbeitsmarkt, Renten- und Gesundheitssysteme noch halbwegs gerecht organisieren? Darauf muss die Politik uns Wähler einstellen. Sonst bricht der Wandel so rasch über diese Republik herein, dass sie ihn gar nicht mehr gestalten kann.

Herzlichst Ihr Andreas Petzold

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