Editorial Schröders schwerste Scheidung

Ob Schröder als Kanzler überlebt, hängt nicht davon ab, wie laut die Opposition nach Neuwahlen schreit. Nicht einmal von der Figur, die er als Kanzler künftig abgibt. Nein, er hat sein Schicksal in die Hände von Franz Müntefering gelegt.

Liebe stern-Leser!

Ob Schröder als Kanzler überlebt, hängt nicht davon ab, wie laut die Opposition nach Neuwahlen schreit. Nicht einmal von der Figur, die er als Kanzler künftig abgibt. Auch seine üblichen Rücktrittsdrohungen würden jetzt ins Leere laufen. Nein, er hat sein Schicksal in die Hände von Franz Müntefering gelegt. Dem muss nun der emotionale Brückenschlag in die Parteibasis gelingen, er soll das Scharnier zwischen Schröder und den Funktionären draußen im Land sein. Denn auf Dauer ist es unmöglich, gegen Fraktion und Partei zu regieren.

Die Aufgabe, das Zusammenspiel von Kanzler, Fraktion und Mitgliedern zu harmonisieren, scheint kaum lösbar zu sein. Schon wollen einige führende Sozialdemokraten die Reformuhr zurückdrehen. Sie hoffen auf "Münte". Er gilt in den Augen der Partei als Mann, der Reformen nicht rein ökonomisch definiert, sondern soziale und ethische Aspekte im Auge behält. Er ist für die "gefühlte Gerechtigkeit" zuständig. Da der Umbau des Sozialstaates aber nicht ohne Einschnitte ablaufen kann, dürfte sich das Kanzlerschicksal an diesem Spagat entscheiden.

Hinzu kommt: Mit dem Rückzug als Vorsitzender geht Schröder noch mehr auf Distanz zur Partei. Er verschärft damit das Problem, das zu seinem Abgang geführt hat. Abgekapselt in seiner Berliner Trutzburg hat er regiert, umgeben von Beratern und Zuträgern (siehe Grafik Seite 24), während seine SPD heimatlos herumdümpelte und von einem Umfragetief ins nächste plumpste. Ab Seite 22 beschreibt stern-Reporter Tilmann Gerwien die Welt des Kanzlers - ein abgeschlossenes Universum, das die Lebenswirklichkeit der Wähler manchmal in falschen Farben filtert. Sonst wäre Schröder niemals ein Satz wie dieser herausgerutscht: "Es ist schon merkwürdig, dass zur Schicksalfrage der Nation erklärt wird, ob man innerhalb eines Vierteljahres zehn Euro bei einem Arztbesuch bezahlt oder nicht."

Der stern hat den Missmut der Wähler und den Zwist zwischen Schröder und seiner Partei seit langem dokumentiert. Mitte November, vor dem SPD-Parteitag in Bochum, veröffentlichten wir eine Umfrage unter Parteimitgliedern (stern Nr. 47/ 2003). Das Ergebnis war deutlich: Schröder regiert die Sozialdemokraten in eine gefährliche Depression. Auf die Frage, ob die Ämter des Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden getrennt werden sollten, antworteten schon damals 54 Prozent aller Mitglieder mit ja. Anders gesagt: Die Partei hatte die Scheidung von ihrem Chef eingereicht.

Doch sie wünschte sich nicht nur einen anderen Vorsitzenden. Sie wollte auch eine andere Politik: 60 Prozent der befragten Parteimitglieder hielten den Kanzlerweg für sozial unausgewogen. Da rächte sich, dass der Regierungskurs in der Partei nie ausreichend zur Debatte gestanden hatte. Das wird nun mit großer Lust an der Selbstzerfleischung nachgeholt. Aus allen Richtungen schlagen Querschüsse im Kanzleramt ein. Wenn dies wochenlang so weitergeht, wird Schröders Schmerzgrenze bald erreicht sein. Für ihn gilt das gleiche wie seinerzeit für Helmut Schmidt: der richtige Mann in der falschen Partei. Das Ende ist bekannt.

Herzlichst Ihr
Andreas Petzold

print