Editorial Was bleibt, falls Schröder geht

Liebe stern-Leser!

Wenn die Dinge verworren erscheinen, die Lage unübersichtlich ist, dann lohnt es sich, zum Ausgangspunkt zurückzukehren und zu fragen: Worum ging es noch gleich?

Der Bundeskanzler hat die Vertrauensfrage gestellt. Auf seinen Wunsch hin sollten die Bürger darüber abstimmen, ob Rot-Grün mit der Reform-politik weitermachen soll. Dafür fand sich keine Mehrheit. Deshalb - auch wenn er schillernder, erfahrener, pfiffiger ist als Merkel - muss Schröder sein Amt abgeben. Dieses Argument wird auch nicht dadurch schwächer, dass die Union ihr vorhergesagtes Resultat nicht erzielt hat. Beide haben verloren, aber er ein bisschen mehr als sie.

Dass es nun ein tatsächliches und ein "gefühltes" Wahlergebnis gibt, ist einzig dem übergroßen Selbstbewusstsein des Bauch-politikers Schröder zu verdanken, letztlich aber ein taktisches Mätzchen. Seit der SPD-Präsidiumssitzung am Montag dieser Woche darf Schröder quasi im Parteiauftrag stur bleiben. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass er dadurch die Republik in Neuwahlen treibt.

Ganz gleich, wie die Sache ausgeht - es ist Zeit, sich umzudrehen und zu fragen: Was wird von ihm bleiben, falls er geht? Schröder ist zu Recht vorgeworfen worden, er habe im Laufe der Jahre klare politische Linienführung vermissen lassen. Wahlprogramme und Parteitagsbeschlüsse dienten ihm nur bei Bedarf als Leitplanken der Tagespolitik. Er regierte auch bei Nebel auf Sicht und korrigierte, wenn Hürden auftauchten, seinen Kurs oft gnadenlos - mitunter auch in die richtige Richtung. Was hatten wir nicht alles: die ruhige Hand, dann gleichsam über Nacht eine Agenda 2010, zum Schluss wieder den Schutzpatron der kleinen Leute, weil die Heuschrecken im Anflug waren.

Es ist so weit: An diesem Samstag erscheint zum ersten Mal VIEW. Das neue Magazin vom stern stellt jeden Monat - gegliedert in die Themenbereiche Ausland, Deutschland, Kultur, Sport, Wissen und Wunder - das Weltgeschehen in Bildern vor. Auf mehr als 150 Seiten präsentiert VIEW eine opulente Auswahl der besten Fotos des Monats: von dramatischen und kuriosen, spektakulären und stillen, anrührenden Ereignissen. Schauen Sie selbst!

Neben flüchtigem Aktionismus - beispielsweise der Erhöhung der Entfernungspauschale im Herbst 2000, weil "Bild" über die hohen Spritpreise wütete - ist die Zusammenlegung von Sozial- und Arbeitslosenhilfe die bleibende Kerbe in der Innenpolitik. Fast unsterblich dagegen machte sich Schröder als Außenpolitiker. Für einen - gemessen an seiner Amtszeit - kurzen Moment erhob er die Außenpolitik zum alles überstrahlenden Thema: den Irak-Krieg und die riskante Abnabelung von den Vereinigten Staaten.

Frech sabotierte er Führungsanspruch und Autorität der Großmacht USA. Man konnte es damals ja höchstens ahnen, dass die Kriegsgründe des US-Präsidenten allesamt vorgeschoben waren, das Wissen darum besaßen nur wenige Eingeweihte im Weißen Haus und im Pentagon.

Umso größer das Ansehen, das sich der Kanzler in dieser heiklen Phase der Weltpolitik verdiente. Dass er damals mit seinem frühen Nein zum Irak-Krieg auch gleich die einheitliche Front der UN sprengte, nahm er als Kollateralschaden hin. Und natürlich sollte die klare Haltung bei der Aufholjagd gegen Kanzlerkandidat Stoiber helfen. Dennoch ist es dieses Kapitel der rot-grünen Regierungsgeschichte, das immer als Erstes aufgeschlagen werden wird, wenn es um die sieben Kanzlerjahre geht. Dagegen wirken die innenpolitischen Fortschritte wie Fußnoten.

Beim Thema Irak hat Schröder echte Substanz bewiesen, weil er seinem eigenen Kompass, wirklicher innerer Überzeugung, gefolgt ist. Das Nein zum Irak-Krieg bleibt - auch als Verpflichtung für alle Kanzler danach.

Herzlichst Ihr


Andreas Petzold

print