Liebe Frau Peirano,
meine ältere Schwester Lisa, 40, und ich stehen uns sehr nahe. Wir haben seit jeher ein gutes Verhältnis und verbringen gern Zeit zusammen. Sie ist ein sehr kommunikativer, aber auch sensibler Mensch.
In den letzten vier Jahren haben sich zwei bis dahin sehr wichtige Personen in ihrem Leben (zwei langjährige Freundinnen, die sich gegenseitig nicht kennen) von ihr abgewandt, indem sie sie geghostet haben – also ohne ein Wort oder eine Aussprache den Kontakt zu ihr abbrachen. Das verletzt meine Schwester sehr und sie ist sehr traurig darüber. Vor allem, weil es keine Möglichkeit gibt, herauszufinden, worin der Grund für den Kontaktabbruch lag, da sie nicht auf Kontaktversuche eingehen. Wir können nur mutmaßen, da es keinen Streit oder Diskussionen im Vorfeld gab.
Es wäre einfacher, einen Deckel auf die Geschichte zu machen, wenn ich diese eine ehemalig gute Freundin, Tina, nicht ständig treffen würde, da sie im gleichen Ort wie ich wohnt – meine Schwester ist dort auch aufgewachsen – und im Verein, bei dem ich auch engagiert bin, eine zentrale Rolle inne hat. Ihr Sohn ist so alt wie meine Tochter und wir werden die folgenden Jahre unweigerlich durch den Verein und die Kinder miteinander zu tun haben. Ich kann ihr Verhalten nicht verstehen. Ich habe sie vor zwei Jahren auch darauf angesprochen, aber sie hat beschwichtigt und abgeblockt. Sie ist vom Typ her ein eher egozentrischer Mensch, der nicht viele enge soziale Beziehungen hat und Konfrontationen aus dem Weg geht.
Wenn sie meine Schwester und mich spazieren gehen sieht, dreht sie "zufällig" um. Wenn ich sie alleine sehe, tut sie so, als wäre nichts. Das macht mich irgendwie fertig, weil meine Schwester unter diesem Ende der Freundschaft leidet und es auch öfter thematisiert. Selbst wenn sich beide zum Beispiel durch ein Gespräch wieder annähern würden, wäre keine Vertrauensbasis mehr da. Eine Rückkehr zu einer Freundschaft ist also nicht das Ziel, da die Verletzungen dafür zu groß sind. Meine Schwester kann das Ganze auch nicht vergessen, weil ich diese Freundin regelmäßig sehe und ihr nicht einfach aus dem Weg gehen kann.
Für mich ist es sehr unangenehm, so zu tun, als wäre nichts, weil ich das Verhalten von dieser Freundin nicht nachvollziehen kann. Ich habe dann auch das Gefühl, meine Schwester zu verraten.
Ich bräuchte daher am besten zwei Denkanstöße von Ihnen:
- Wie kann ich meiner Schwester helfen, besser mit der gescheiterten Freundschaft durch Ghosting zurechtzukommen?
- Wie kann ich dieser ehemaligen Freundin zukünftig begegnen, damit ich meine Schwester nicht verrate und ein möglichst neutrales Verhältnis zu dieser ehemaligen Freundin haben kann?
Ich bin in diesen Fragestellungen emotional zu sehr verwickelt, um einen objektiven Gedanken dazu fassen zu können.
Vielen Dank für Ihre Impulse!
Juliane F.

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Liebe Juliane F.,
ich kann mir vorstellen, dass es Ihre Schwester sehr trifft, wenn gleich zwei Freundinnen sich, ohne die Gründe zu nennen, radikal von ihr abgewandt haben. Ghosting ist ein sehr zerstörerisches und feiges Verhaltensmuster, das große Verletzungen beim Opfer verursachen kann. Die meisten Menschen haben an der einen oder anderen Stelle Selbstzweifel, Unsicherheiten und Schwächen und fragen sich ab und zu, ob sie gut genug oder liebenswert sind. Ghosting beantwortet dieses Frage mit einem klaren Nein. "Nein, du bist nicht liebenswert. Ich habe dich als eine Freundin kennengelernt und bemerkt, wie schrecklich du bist. Du hast so große Fehler, dass ich nichts mehr mit dir zu tun haben möchte und dich wie Luft behandle. Und anscheinend bist du ja auch zu blöd oder unsensibel, um zu erkennen, was du falsch gemacht hast. Denk mal schön darüber nach, denn ich sage dir nichts dazu."
Das ist sehr zermürbend und löst aus, dass man intensiv an sich selbst zweifelt und infrage stellt, und zwar umfassend. Wenn mir jemand sagt, dass er sich trennt, weil ich arrogant bin, kann ich an meiner Arroganz arbeiten. Oder wenn ich erfahre, dass die Person meinen neuen Partner nicht leiden kann, dann kann ich darüber nachdenken, wie wir als Paar auf andere wirken. Aber beim Ghosting muss ich alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen, was an mir nicht stimmen könnte.
In dem beschriebenen Fall wird das Ghosting noch irritierender, weil es in der "analogen" Welt stattfindet und nicht "nur" im Internet. Das heißt, dass Ihre Schwester und auch Sie immer wieder der ehemaligen Freundin Ihrer Schwester begegnen, die aber ausschließlich mit Ihnen redet und so tut, als wäre Ihre Schwester unsichtbar.
Hier ist eine Leseempfehlung zum Thema: "Funkstille. Wenn Menschen den Kontakt abbrechen" von Tina Solimann.
Sie geben selbst eine mögliche Erklärung: Tina wirkt egozentrisch, hat wenig enge Beziehungen und scheut Konfrontationen.
Das heißt, dass sie anscheinend wenig Vertrauen in andere hat und sich selbst auch nicht vertrauenswürdig verhält, indem sie offen mit einer Freundin spricht und versucht, Konflikte zu beseitigen. Ihr scheinen grundlegende Fähigkeiten zu fehlen, um Freundschaften aufzubauen und zu pflegen.
Vielleicht würde es Ihrer Schwester helfen, wenn Sie sich nicht mehr so intensiv nach außen wendet und über die Motive von Tina nachdenkt oder sich über die aktuellen Begegnungen mit ihr aufregt, sondern sich nach innen wendet. Sie könnte sich vorstellen, es wäre ihrer (realen oder imaginären) Tochter passiert und nicht ihr selbst, dass eine enge Freundin sich grundlos abwendet und sie wie Luft behandelt.
Wie würde sie die Tochter trösten? Wie würde sie ihr erklären, warum das passiert ist?
Würde sie ihr vielleicht sagen, dass es normal und okay ist, in Freundschaften nicht perfekt zu sein, aber dass es die Aufgabe einer Freundin ist, darüber zu sprechen, wenn es Probleme gibt? Dass eine gute Freundin einen liebevoll spiegelt und versucht, einem bei der eigenen Entwicklung zu helfen, statt einen zu verunsichern?
Das wäre die Antwort auf Ihre erste Frage, in der Sie wissen wollen, wie Sie Ihrer Schwester helfen können. Sie könnten ihr raten, sich um ihr inneres Kind zu kümmern und die Aufmerksamkeit immer wieder von der äußeren Situation mit der ehemaligen Freundin auf das verletzte, verunsicherte, wütende und traurige Kind zu richten.
Ihre zweite Frage geht darum, wie Sie sich gegenüber Tina neutral und Ihrer Schwester gegenüber loyal verhalten können.
Wie wäre es, wenn Sie den Elefanten im Raum ansprechen, wenn das nicht schon geschehen ist? Sie könnten zum Beispiel sagen, dass die ungeklärte Situation zwischen Tina und Ihrer Schwester Sie belastet und Sie es nicht in Ordnung finden, jemanden zu ghosten. Und dass es Sie immer noch belastet, weil die Situation bis heute nicht geklärt ist und damit andauert. Damit wäre Ihre Haltung ausgesprochen und Sie hätten sich deutlich positioniert.
Meistens entlastet es sehr, auszusprechen, dass ein Elefant im Raum steht. Der ist ja auch nicht einfach weggegangen durch das Verleugnen und Ausweichen, sondern er steht immer noch dort.
Die Konsequenzen, die sich daraus ergeben, können Sie dann durch Ihr Verhalten ausdrücken, indem Sie nur das Nötigste mit Tina zu tun haben. Ein Kommunikationsforscher hat die Mischung aus "friedlich" und "höflich" mal "friedhöflich“"genannt. Überlegen Sie doch mal, ob ein friedhöfliches Verhalten von Ihnen eine angemessene Reaktion auf Tinas Verleugnen wäre. Zum Beispiel ein knappes "Hallo" zu Begrüßung, ein klares Fokussieren auf Sachthemen, nur der oberflächlichste Smalltalk.
Ich hoffe, dass bringt Ihnen Klarheit!
Herzliche Grüße
Julia Peirano
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