New York, 11. September 2001, die Sonne geht auf, die Millionenstadt erwacht, Autos verstopfen die Straßen, Menschen gehen zur Arbeit, Büros füllen sich - wie an jedem anderen Tag. Ein schöner, ein friedlicher Tag bricht an: Keine Wolke am Himmel, laue Spätsommerluft statt Großstadtsmog. Doch kurz darauf wird die Welt den Atem anhalten; eine Supermacht erlebt ihr zweites Pearl Harbour.
Terroristen entführen Passagiermaschinen, rammen damit das World Trade Center. Beide Türme des gigantischen Bauwerks stehen in Flammen, stürzen schließlich zusammen, Tausende sterben: Fluggäste, Büroangestellte, Feuerwehrmänner, Polizisten - Frauen, Männer und Kinder.
Weltuntergang vor der Haustür
"Ich hatte mich gerade zum Frühstück hingesetzt, als das Telefon klingelte. Rebecca Ames, verantwortlich für die Pressearbeit bei "Magnum", rief mich an, etwa fünf Minuten, nachdem das erste Flugzeug eingeschlagen hatte", erinnert sich Thomas Hoepker später. Der 1936 geborene Fotoreporter lebt seit einigen Jahren in der Metropole. Er blickt auf eine lange Karriere zurück, schoss zahllose Reportagen für den stern, Geo, Kristall und Twen, war als erster westlicher Fotograf überhaupt in der DDR akkreditiert, berichtete zwischen 1974 und 77 aus dem Arbeiter- und Bauernstaat.
Ende der Achtziger war er Art-Direktor des stern, 1989 als erster deutscher Fotograf Vollmitglied der Bildagentur "Magnum" - ein kluger, bescheidener Beobachter, dessen Fotografie von dem Anspruch geprägt ist, "Bilder vom wirklichen Leben" zu machen. Sein Beruf hat ihn immer wieder an die Brennpunkte der Welt geführt: Krisen, Konflikte, Kriege, Not und Elend hat er in subtilen, empathischen, beinahe lyrischen Bildern dokumentiert. Heute kommt der Brennpunkt zu ihm: Weltuntergang vor der Haustür.
"Was mache ich jetzt?"
Erst kann er die Nachricht kaum glauben: "Es brauchte eine Weile, bis es bei mir angekommen war. Dann schaltete ich den Fernseher an, und erst, als ich dort die Bilder sah, wurde es Wirklichkeit. Das ist typisch für unsere Zeit, oder?" Wenige Kilometer von Hoepkers Frühstückstisch bricht eine Katastrophe beispiellosen Ausmaßes über das heile amerikanische 21. Jahrhundert herein.
Der Fotograf ist zuerst wie gelähmt "Was mache ich jetzt? Was ist das Richtige? (...) vielleicht ist es nicht richtig, da hinzugehen, zum Fotografieren. Es ist zu entsetzlich". Solche Gedanken schießen ihm durch den Kopf. Aber sein Glaube an die Aufgabe der Dokumentarfotografie treibt ihn vor die Tür: "Man muss etwas tun, man muss einfach losgehen und Bilder machen". Der erliegende Verkehr der traumatisierten Stadt lässt ihn nicht weit kommen: Die U-Bahn fährt nicht mehr und auf den Straßen stauen sich die Autos. Auf der Suche nach einem Weg in die Stadt strandet Hoepker schließlich in Brooklyn.
Hitchcock mit einem Hauch Monty Python
So bleibt dem Fotografen nur der Schuss aus der Distanz, die Umstände zwingen ihn, mit Robert Capas Grundsatz der größtmöglichen Nähe zu brechen. Ein glücklicher Zufall. Hoepker sieht und dokumentiert das unfassbar surreale große Bild des 11. Septembers: Apokalypse und Sonnenschein. "Es lag ein solcher Widerspruch in der Schönheit dieses Tages und dem Horror da unten in der Stadt. Es war wie ein Hitchcock-Film, der am helllichten Tag gedreht wurde. Man ahnt, dass etwas Entsetzliches in der Luft hängt, aber man weiß noch nicht, was", beschreibt Hoepker seine Gedanken in dem Buch "New York 11. September von 'Magnum'-Fotografen".
In Brooklyn entsteht auch das Bild, welches wie kein anderes auf dem Film die Unwirklichkeit des Anschlags widerspiegelt: Fünf junge Menschen genießen auf einer Terrasse am East-River die Sonne, unterhalten sich angeregt, wirken entspannt. Ein Bild wie aus einer Werbe-Broschüre "Besuchen Sie New York!" Im Hintergrund die Skyline der Millionen-Metropole, die Manhattan Bridge, blauer Himmel und eine gewaltige Rauchsäule. Thomas Hoepker mischt "Hitchcock am helllichten Tag" einen Hauch Monty Python bei, so gnadenlos ironisch wirkt die Seelenruhe der Gruppe im Vordergrund angesichts der Katastrophe am Horizont.