Görlitzer Bahnhof, Kreuzberg, elf Uhr vormittags. Unter dem Viadukt, an der Treppe, steht eine Hand voll junger Männer. Sie suchen Blickkontakt, sie sprechen fast jeden an, egal, wer ihren Weg kreuzt. "Hey, alles klar, Gras?", "Want some dope?" Es sind auch zwei Sicherheitsleute der Berliner Verkehrsbetriebe da. Sie haben sich verschränkten Armen ein paar Treppenstufen aufwärts postiert, kaum drei Meter entfernt. Stumm blicken sie auf das Treiben der Dealer.
Im Park das altbekannte Bild: In kleinen Grüppchen sitzen Schwarze auf dem Rasen. Andere streifen an den Parkeingängen herum oder fahren mit ihren Mountainbikes das Gelände ab. Alle suchen dasselbe: Kundschaft. Und das ist theoretisch jeder. "Whats up man?", "Need something?", Ist der Blickkontakt einmal aufgebaut, werden sie hartnäckig, penetrant. Einem jungen Mann, der umher irrt, rufen und winken sie noch auf eine Entfernung von 30 Metern hinterher.
"Ich hab' schon Schiss"
"Seit vier Jahren dieselbe Scheiße. Hier hat sich nichts geändert", grollt ein türkischstämmiger Spaziergänger im Park, merklich gereizt und mit lauter Stimme. Eine Frau mittleren Alters erklärt: "Meine Freunde und ich, die hier wohnen, wir trauen uns schon seit Jahren kaum noch in den Park. Ich habe schon Schiss. Daran hat sich auch in den letzten Monaten nichts geändert." Und ein Dritter, etwa 50 Jahre alt: "Vielleicht ist es ein bisschen weniger geworden. Dafür stehen sie jetzt in den Seitenstraßen oder am Kanal. Die Polizei sieht man hier so gut wie gar nicht." Das ist die eine Gruppe.
Die andere stört sich nicht an den Dealern. Dafür aber an der "Polizeiwillkür", dem "racial profiling" bei den Razzien, bei denen sich Polizisten fast nur auf Menschen mit dunkler Hautfarbe konzentrierten. "An die weißen Konsumenten geht keiner ran", beschwert sich eine junge Frau, kaum 30 Jahre alt. Unzufrieden sind hier alle.
Null Toleranz!
Es sind Sätze, die den Regierenden Berlins kaum gefallen können. Anfang April hatte der Senat, allen voran Berlins Innensenator Frank Henkel, den Görlitzer Park zur drogenfreien Zone ausgerufen. Die Null-Toleranz-Regel bestraft seither schon den Besitz kleinster Mengen Gras im Park. Für Berlin eine verrückte Regelung: Überall sonst in der Stadt werden bis zu 15 Gramm toleriert – nur im Görli nicht. Es war Henkels Antwort auf einen völlig ausuferndem Drogenhandel im Park, den die Polizei über Jahre nicht in den Griff bekommen hat. Trauriger Höhepunkt: Im November 2014 stach der Betreiber einer nahen Shisha-Bar zwei Dealer nieder. Der Görli war mal wieder bundesweit in den Schlagzeilen. Es folgten Razzien, Polizeihunde, LKA, Brennpunktstreifen, erhöhte Polizeipräsenz. Doch es brachte alles nichts.
Nachfrage beim Verantwortlichen. Frank Henkel empfängt im Alten Stadthaus, seinem Dienstsitz nahe dem Alexanderplatz. Der Innensenator gibt sich entschlossen, spricht vom langen Atem, der notwendig sei. Es gebe positive Veränderungen, dafür sprächen die Zahlen der vergangenen Monate. Verhaftungen, beschlagnahmte Drogen, Drogengelder. Die Null-Toleranz-Regelung - aus seiner Sicht ein Erfolg? "Nach vier Monaten ist es zu früh, eine endgültige Bilanz zu ziehen. Über 100 Haftbefehle sprechen aber eine klare Sprache." Und die Kritik an ihm? "Wohin soll die Kritik denn führen? Was wirft man mir vor? Dass ich gehandelt habe?"
Die Idee der Monika Herrmann
Schon nach wenigen Minuten Gespräch fällt der Name Monika Herrmann. Sie ist die grüne Bezirksbürgermeistern von Friedrichshain-Kreuzberg. Nicht eben eine politische Freundin Henkels. Und sofort ist auch von Coffeeshops die Rede. Der Ton wird schärfer: "Frau Herrmanns Konzept ist nicht, das Dealen im Park zu verhindern. Durch Coffeeshops wird sich das Drogenproblem in Friedrichshain-Kreuzberg nur erheblich verstärken“ Und: "So unsinnig wie die Forderungen nach Coffeeshops sind, so unsinnig ist die Forderung nach Duldungen für kriminelle Ausländer. Die wird es mit mir definitiv nicht geben."
Monika Herrmanns Bezirksamt liegt in einer heruntergekommenen Ladenpassage an der Frankfurter Allee. "Frank Henkel ist mit seiner Politik im Park absolut gescheitert", sagt sie. Das Büro ist karg und schlicht, die Wände weiß. Dennoch wuchern hier die Träume einer immer größer werdenden Bevölkerungsgruppe: Hermann streitet für die Legalisierung von Cannabis in Friedrichshain-Kreuzberg. Es wäre die erste grüne Zone in der Geschichte der Bundesrepublik.
Ende Juni schickte sie ihren Antrag an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn. Innerhalb von 90 Tagen muss darüber entschieden werden. Das Ziel: der regulierte Verkauf von Cannabis in vier Fachgeschäften. Kaufen darf, wer 18 Jahre alt ist. Maximal 30 Gramm im Monat. Im Görlitzer Park wird es keine Verkaufsstelle geben, denn hier gilt ja die Null-Toleranz-Regel von CDU-Mann Henkel.
Ein Erfolg des 25-seitigen Antrags wäre nicht weniger als eine Zäsur der deutschen Drogenpolitik. Herrmann ist zuversichtlich: "Wir haben einen Stein ins Wasser geworfen, der anfängt, Wellen zu schlagen." Natürlich würden mit den vier Fachgeschäften die Dealer nicht verschwinden. Aber: "Bei Erfolg wird es die Drogenpolitik in Berlin komplett verändern. Und wenn die Hauptstadt einen anderen Weg geht, wird es auch die Politik in Deutschland komplett verändern. Kein Bundesland, kein Bezirk in Deutschland wird das ignorieren können." Die Grüne betont: "Der Antrag ist so geschrieben, dass er auf jedes Bundesland und jede Stadt übertragbar ist." Es wäre eine Revolution, geplant in Berlin, Frankfurter Allee.
Was würde sich ändern?
Wie würden die Coffeeshops die Situation im Park verändern? Helfen sie auch den Flüchtlingen, die im Park dealen? Als Verantwortliche für den Bezirk könne sie nicht mehr tun, sagt Herrmann. Sie könne den Flüchtlingen keine Duldungen aussprechen und sie nicht beschäftigen, sie würde sich damit strafbar machen. Aber: "Es wäre für den Innensenator, der ja so gerne aufräumt, überhaupt kein Problem, Duldungen auszusprechen. Dann hätten die Menschen, die dort gezwungenermaßen illegal arbeiten, eine Chance auf legale Arbeit."
Teilweise nimmt der Kiez das Problem selbst in die Hand. Menschen, die nicht nur gern helfen würden, sondern es seit Monaten täglich tun, sind Brigitta Varadinek und ihre Tochter Annika. Im kleinen Café in der Falckensteinstraße, das Annika führt, erzählen sie von ihrem Projekt "Bantabaa". "Wir versuchen, Flüchtlingen eine Alternative zum Dealen im Park zu geben." In einem Nebenraum machen am Vormittag sechs, normalerweise 15 Flüchtlinge einen Sprachkurs, lernen nach Jahren im Land ihre ersten deutschen Sätze. Keiner ist älter als 25 Jahre. Viele weitere berät Annikas Mutter Brigitta in Asylfragen. Beide versuchen, "den Jungs" Arbeit zu vermitteln, manche wohnen in den Vereinsräumen.
Gibt es Razzien im Park, geht Annika hinüber und spricht mit den Polizisten. "Wir waren anfangs auch genervt von dem Ausmaß des Dealens. Aber die Flüchtlinge haben schlicht keine Perspektive", erklärt Brigitta. Sie wollen möglichst unpolitisch sein, sagen aber auch: "Wir haben in erster Linie kein Drogen-, sondern ein Flüchtlingsproblem." Und weiter: "Man kann das nicht mit einem Coffeeshop lösen. Dann entziehen wir den Jungs auch noch die Lebensgrundlage. Wir brauchen Duldungen."
Es ist ein Flüchtlingsproblem
Ähnlich argumentiert auch Martin Heuß von der Anwohnerinitiative: "Wir müssen den Flüchtlingen Alternativen zum Dealen bieten. Das Flüchtlingsproblem, die Nachfrage nach Drogen, das kann man mit polizeilichen Mitteln nicht eliminieren." Heuß sieht den Park als Projektionsfläche für so vieles, das Geschehen sei immer in der Gefahr, überideologisiert zu werden. Gerade ist es verhältnismäßig ruhig im Kiez. "Das kann sich hier aber auch schnell wieder ändern."
Görlitzer Park, Mittwoch vergangener Woche, früher Abend. Aus kleinen Trauben sind große Gruppen geworden. Allein am Parkeingang Wiener Straße stehen fast 30 Dealer. Auf dem Grün sind es ein Vielfaches mehr. "Alles cool?", "You want some?", "So why are you looking at me like this?" Wenig später stehen in der Görlitzer Straße rund ein Dutzend Mannschaftswagen mit Blaulicht. Die Polizisten sind angespannt, wollen nicht reden. Kurz zuvor ist ein Schuss gefallen. Später erklärt die Polizei: Zwei Streifenpolizisten reagierten auf Hilferufe im Park, gerieten in eine Auseinandersetzung zweier Schwarzafrikaner. Einer der Beamten schießt dem Angreifer ins Bein. Schlagzeilen wird es geben, mal wieder.