Interview mit Neidforscher Rolf Haubl "Neid kann lebensgefährlich werden"

Neidforscher Rolf Haubl über die Rolle des Neids auf der Suche nach Orientierung und Lebenssinn, warum wir unbewusst neidisch auf Menschen sind, die für andere sterben - und wann Neid behandlungsbedürftig wird.

Herr Haubl, was sind nach Ihrer Erfahrung die beliebtesten Neidobjekte? Ist es immer noch das neue Auto des Nachbarn oder des Arbeitskollegen?

Zunächst einmal: Es gibt nichts, was sich nicht beneiden lässt. Zwar werden in unserer Gesellschaft überwiegend materielle Güter beneidet, die aber sind Stellvertreter für innerpsychische Zustände. Der neue Porsche, mit dem der Nachbar Neid erregt, verdeckt, dass es um anderes geht - um Anerkennung, Zufriedenheit, Glück, Sinn oder ähnliches.

Unsere heutige Gesellschaft ist eine andere als noch vor 100 Jahren. Ändert sich damit auch der Neid?

Natürlich. In der vormodernen Gesellschaft zum Beispiel war die Kinderzahl etwas, das den stärksten Neid erzeugt hat. Da hat die Menge der Nachkommen dafür gesorgt, dass eine Familie überleben kann. Heute ist der Neid auf Kinder eher ein individuelles Problem. Da beneidet eine Frau, die unfruchtbar oder schon so alt ist, dass sie keine Kinder mehr bekommen kann, die andere Frau, die Kinder hat. Aber kollektiv ist man heute nicht mehr auf Eltern neidisch, die viele Kinder haben - im Gegenteil. Die werden misstrauisch beäugt oder sogar als Asoziale beschimpft.

Was wird dagegen heute am meisten beneidet?

Was in einer Gesellschaft am meisten beneidet wird, bildet die Werteskala dieser Gesellschaft ab. Da gehört neben materiellen Gütern auch der sichere Arbeitsplatz dazu. Aber es gibt auch Güter, die sehr viel weniger offensichtlich beneidet werden: zum Beispiel Orientierung.

Was heißt das?

Dass wir auf diejenigen neidisch sind, die eine feste Ordnung in ihrem Leben haben, eine Orientierung, für die sie sogar sterben würden. Ich sage jetzt was ganz Unpopuläres: Einiges an den Konflikten, die wir mit dem Islam oder mit dem Islamismus austragen, haben vielleicht ihren Ursprung im unbewussten Neid - weil wir da auf Menschen treffen, die eine so starke Orientierung haben, dass sie dafür ihr Leben einsetzen, dass sie dafür morden. Das finden wir abscheulich, gar keine Frage. Aber da ist in manchen Fällen vielleicht auch ein Quäntchen Neid dabei auf Menschen, die, im Gegensatz zu uns, eine solche Orientierung noch haben.

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... für die es aber einen interessanten Indikator gibt. Ich habe mal mit einer Selbsterfahrungsgruppe gearbeitet, wo genau das diskutiert worden ist. Da wurde nämlich fantasiert, was gewesen wäre, wenn am 11. September 2001 die Passagiere nicht nur in jenem Flugzeug, das dann in freiem Feld abgestürzt ist, gegen die Terroristen gemeutert hätten. Die Katastrophe am New Yorker World Trade Center hätte nicht stattgefunden, wenn es ein Dutzend couragierter Menschen gegeben hätte, die ihr eigenes Leben für weniger wichtig gehalten hätten als das Leben von 3000. Warum, fragten sich die Teilnehmer dieser Selbsterfahrungsgruppe, setzen zivilisierte Menschen ihr Leben nicht mehr in dieser Weise ein? Weil ihnen der unbedingte Glaube an die Gemeinschaft verloren gegangen ist, über die man das eigene Leben stellt.

Zur Person

Rolf Haubl, 56, ist geschäftsführender Direktor des Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt/Main und lehrt dort an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie. Sein Buch "Neidisch sind immer nur die anderen - Über die Unfähigkeit, zufrieden zu sein" (C. H. Beck, 17,90 EUR) gilt inzwischen als Standardwerk der Neidforschung.

Wie Jesus, der Sohn Gottes, der sich nach dem christlichen Glauben für die Menschheit opferte?

Genau. Schauen Sie sich die Kirchentage an, wo es massenhaft Menschen gibt, die Sinn suchen und Orientierung. Ich denke, dass die Sinnsuche ein ungelöstes Problem der Moderne ist. Ich behaupte, dass wir keineswegs in einem postreligiösen Zeitalter leben, wie es oft beschworen wird. Vielleicht in einem postkirchlichen, ja. Das Bedürfnis nach Religion, in welcher modernen Gestalt auch immer, ist so groß wie nie zuvor.

Warum dann oft Verachtung für oder gar Hass auf diejenigen, die an etwas anderes glauben?

Weil ich Neid verdecken kann, indem ich etwas massiv entwerte. Und da kommt das Problem der Toleranz hinzu: Tolerant kann nur jemand sein, der so gefestigt in der eigenen Position ist, dass ihn die Begegnung mit etwas Fremdem nicht erschüttert. Dort, wo ich selbst in meiner Orientierung sehr brüchig bin, sind mir andere in ihrer Andersartigkeit deswegen zuwider, weil diese Andersartigkeit mein Selbstsein in Frage stellt. Dann gehe ich auf den anderen los, versuche ihn im schlimmsten Fall zu vernichten, damit ich den Zweifel, den ich an mir selbst habe, nicht mehr spüre.

Womit wir schnell beim Ressentiment wären, dem kollektiven Neid einer gesellschaftlichen Gruppe, die sich benachteiligt fühlt.

Wenn man so will: ja. Ressentiment ist feiger Neid, ein köchelnder Neid. Das Ressentiment entsteht genau in dem Moment, wo ich mir meiner Sache nicht mehr oder noch nicht sicher bin, wo ich den anderen belächeln oder hassen kann, ihn brauche, um mich selbst gefestigt zu fühlen. Ressentiment ist immer selbstgerecht und auch weinerlich: Wenn es die nicht gäbe, könnten wir so leben, wie wir es uns wünschen. Was natürlich nicht stimmt. Wenn ich mich selbst nicht än¬dern kann oder will, ist feindselig-schädigender Neid ein Entlastungsmechanismus. Da mache ich das kaputt oder madig, was mich selbst in Frage stellt.

Kann Neid auch lebensbedrohlich werden?

Wenn er zu einem monomanischen Thema wird, klar. Wenn Menschen mit einer Art Tunnelblick durchs Leben laufen und immer nur das sehen, was der andere hat und sie nicht. Wenn sie ihre eigenen Talente nicht mehr wahrnehmen und sie fixiert sind auf andere, wenn sie zwanghaft immer an das denken, was die anderen haben, wenn sie sich zwanghaft ungerecht behandelt fühlen und dann zu einsamen Querulanten werden, verbittert, sozial isoliert. Da kann Neid in der Tat zum so genannten "Bilanzselbstmord" führen. Wenn unterm Strich nichts mehr übrig bleibt und der Tod als letzter Ausweg gesehen wird.

Ein anderer Ausweg ...

... wäre eine Psychotherapie, um diese Bilanz unter fachkundiger Aufsicht zu ziehen, und zwar mit einer konstruktiven Perspektive: Was ist im Lauf meines Lebens auf der Strecke geblieben? Wo kann ich an etwas anschließen, was ich bislang vielleicht verachtet habe, weil ich es eigentlich aus der Perspektive der anderen betrachtet habe und nicht aus meiner eigenen? Vielleicht war mein großes Talent mal die Musik, die mir früher so viel Spaß gemacht hat. Aber dann hat es mir irgendjemand ausgeredet, und ich hab's gelassen und einen ganz anderen Weg eingeschlagen, auf dem ich unglücklich geworden bin.

Ein Beamter im Katasteramt wird aber mit 55 kaum noch eine Karriere als Cellist machen können.

Aber er könnte zu Hause fiedeln oder in einem Laienorchester. Manchmal muss man allerdings auch den Mut haben, sein Leben völlig zu ändern - um dann glücklicher oder wenigstens zufriedener zu sein. Man muss wissen, wann es nicht nur immer besser, sondern auch gut ist. Und das ist genau der Punkt: Neidische Menschen wissen nicht, wann es gut ist. Sie finden diesen Punkt nicht und können deshalb ihr Leben nicht genießen.

Interview: Werner Mathes