Therapie Leid durch Liebe

Jahrelang litt die Rheumatikerin Beate Strecker furchtbare Schmerzen, nahm reichlich Tabletten - und wurde von ihrem Mann umhegt. Inzwischen haben beide gelernt, der Krankheit weniger Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie waren auf das Schlimmste gefasst: In Gedanken hatte Detlef Strecker schon das Haus umgebaut - für den Rollstuhl, in dem seine Frau einmal sitzen würde. Und Beate Strecker hatte sich erkundigt, wie sie sich am sichersten vergiften könnte. Lieber wollte sie sterben, als die Qualen weiter zu ertragen. Täglich schluckte sie 16 Tabletten: sechs gegen die Rheumaschmerzen, zehn, um die Nebenwirkungen zu lindern - das Sodbrennen, das Jucken der Haut, die Übelkeit am Morgen. Auf Dauer sei ein Rollstuhl wohl unumgänglich, sagte auch der behandelnde Arzt.

Doch dann, im Frühjahr 1999, nahm die ehemalige Sekretärin an einem neuen Therapieprogramm teil. Die leitende Psychologin, Kati Thieme, versuchte gar nicht erst, gegen das Leid der Patientin anzukämpfen, von Medikamenten, Schlammpackungen oder Heilbädern wollte sie nichts wissen. Stattdessen forderte sie Beate Strecker auf, ihre Schmerzen so weit wie möglich zu ignorieren - genau wie ihren Mann, der so oft bat: "Leg dich doch hin, Schatz, wenn es dir nicht gut geht." Zu viel Fürsorge, erklärte Kati Thieme den verdutzten Eheleuten, verstärke die Schmerzen.

Schon in den 90er Jahren hatte die Psychologin Herta Flor eine merkwürdige Entdeckung gemacht: Menschen mit einem besonders "schmerzzugewandten" Partner reagierten sehr viel empfindlicher auf Reize - besonders, wenn der Partner anwesend war. Wenn sie solche Patienten bat, ihre rechte Hand in einen Eimer Eiswasser zu tauchen, dauerte es rund eine Minute, ehe sie die Prozedur als schmerzhaft empfanden. Sobald der Ehemann oder die Ehefrau hinzukamen, klagten sie deutlich früher. "Es ist derselbe Effekt wie bei einem Kind, das vor einem Mathematiktest regelmäßig Bauchschmerzen bekommt", sagt Herta Flor, Professorin an der Universität Heidelberg und Forscherin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. "Wenn die Eltern es daraufhin ein paar Mal zu Hause bleiben lassen, werden sich die Bauchschmerzen häufen. Denn das Kind hat gelernt, dass der bloße Ausdruck von Schmerz mit Zuwendung belohnt wird."

WER ALS ERWACHSENER

mit Klagen die Anteilnahme des Partners gewinne, gestreichelt und umsorgt werde, lerne unbewusst, seine Schmerzen stärker wahrzunehmen und schneller zu äußern. Das Gefährliche daran: Die Patienten delegieren Dinge, die sie eigentlich selbst erledigen könnten, immer früher an ihre Mitmenschen und verlieren dadurch auf die Dauer tatsächlich an Mobilität.

Inzwischen hat Herta Flor mit ihrem Forschungsteam einen Durchbruch in der Schmerzforschung erzielt: Ihr gelang es, den "Partner-Effekt" erstmals in exakten Zahlen auszudrücken. Dazu verabreichte die Wissenschaftlerin chronischen Schmerzpatienten harmlose, leichte Stromschläge und beobachtete, wie sich die Hirnaktivität der Testpersonen während dieser Prozedur veränderte. Das Ergebnis: Die elektrischen Reize lösten im Gehirn eine fast um das Dreifache erhöhte Aktivität aus, wenn der Lebenspartner während der Untersuchung anwesend war.

Obwohl diese Ergebnisse bei beiden Geschlechtern beobachtet wurden, gehen Männer und Frauen unterschiedlich mit Schmerzen um. Das zumindest glaubt der Amerikaner Roger Fillingim. Der Psychologe von der University of Florida untersuchte mit seinem Team 203 Männer und 114 Frauen mit chronischen Schmerzen. Fillingim stellte fest, dass Männer, deren Ehefrauen besonders fürsorglich waren, über größere Schmerzen klagten, aber genauso gut rennen, hüpfen oder heben konnten wie die Vergleichsgruppe von Männern mit weniger fürsorglichen Partnerinnen. Anders die schmerzkranken Frauen: Waren sie mit einem besonders fürsorglichen Mann verheiratet, klagten sie weder mehr noch weniger über ihre Schmerzen, schnitten aber beim Fitnesstest deutlich schlechter ab. "Viele Männer müssen zu Hause offenbar nur "Autsch" sagen, um die Aufmerksamkeit ihrer Ehefrauen auf sich zu lenken. Frauen dagegen werden oft erst dann mit Zuwendung belohnt, wenn sie ihre Schmerzen sichtbar machen, humpeln, weinen oder ohnmächtig werden", interpretiert Fillingim seine Ergebnisse.

"Noch immer wissen wir über chronische Schmerzen viel zu wenig", sagt Herta Flor. Sie scheinen ein Eigenleben zu führen, bei dem ihre eigentliche Funktion verloren geht, zu warnen und den Körper so vor weiterem Schaden zu bewahren. So können das Kreuz, der Kopf oder die Gelenke noch wehtun, wenn der erkennbare Auslöser des Schmerzes längst nicht mehr da ist. Fachleute sagen, der Körper "erinnere" sich an den Ursprungsschmerz und halte die Schmerzzentren im Gehirn fälschlicherweise weiter im Alarmzustand.

VON SOLCHEN "UNPRODUKTIVEN"

Schmerzen könne man sich jedoch befreien, meint die Psychologin Kati Thieme. Die wichtigste Lektion auf diesem Weg: Die Patienten müssen sich von ihren Beschwerden ablenken. Die ständige Beschäftigung mit dem Schmerz produziere nämlich nichts als Schmerzen. Menschen mit chronischen Leiden sollten deshalb ganz bewusst Dinge tun, die ihnen früher einmal Spaß gemacht haben: Lesen, spazieren gehen oder schwimmen. Nur dürften sie sich dabei nicht überfordern. Sie sollten Pausen machen, noch bevor die eigene Leistungsgrenze erreicht ist. So werden neue Schmerzen vermieden, Erfolgserlebnisse geschaffen, und ganz allmählich wachsen die Kräfte - die Patienten bestimmen ihr Leben wieder selbst. Angehörige können diesen Prozess unterstützen: Den Schmerz ignorieren, nicht den Menschen, schärft Kati Thieme ihren Schützlingen ein. Massagen oder Streicheleinheiten sollte der Partner nicht als Reaktion auf Klagen anbieten oder bei einem schmerzverzerrten Gesicht. Jeder andere Moment sei dafür besser geeignet.

Vielleicht wäre ihre Ehe ohne diese Erkenntnisse längst in die Brüche gegangen, erzählt Beate Strecker. Heute, zwei Jahre nach ihrer Therapie, liest sie wieder Romane und Krimis und macht lange Spaziergänge mit ihrem Mann. Während andere Patientinnen es immerhin schafften, ihren Medikamentenkonsum zu reduzieren, ist der Rheumatikerin ein ungewöhnlicher Erfolg gelungen: Vor einigen Monaten konnte sie die letzte ihrer 16 Tabletten absetzen.

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Lotta Wieden

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