Unnötige Therapien Der Traum vom perfekten Kind

Von Monique Berends
Was tun, wenn das Kind mit zwei Jahren seinen Namen nicht richtig aussprechen kann und mit drei noch Probleme hat, einen Stift zu halten? Ab in die Therapie, entscheiden immer mehr Eltern. Kinderarzt Harald Bode rät zu mehr Gelassenheit - und sagt, wann Eltern sich wirklich Sorgen machen müssen.

Stefanie ist sechs. Bald kommt sie zur Schule. Doch ihren eigenen Namen kann sie noch nicht richtig aussprechen: Das "Sch" will ihr nicht über die Lippen. Ihre Mutter macht sich Sorgen; deswegen geht Stefanie nicht wie die anderen Kinder nachmittags auf den Spielplatz, sondern zur Logopädin. Dort muss sie Watte pusten und mit dem Strohhalm trinken - das soll Stefanies Mund schulen. Das "Sch" muss bis zur Einschulung klappen: Stefanie soll nicht anders sein als die anderen Kinder.

Gestört - oder einfach nur etwas später dran?

Nach Schätzungen der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin werden heute 30 Prozent der Kinder eines Jahrgangs therapeutisch behandelt. Ein- oder mehrmals die Woche gehen sie zum Ergotherapeuten, Logopäden oder Krankengymnasten. Bei vielen Kindern sei das unnötig und übertrieben, sagt Harald Bode, Präsident der Gesellschaft. Behandelt werden müsse ein Kind erst dann, wenn seine Entwicklung tatsächlich gestört sei. Jedoch hätten viele Eltern Angst, ihr Kind sei zurückgeblieben, obwohl es nur einige Entwicklungen langsamer durchlebe als seine Alterskameraden.

Bodes Rat: Eltern sollten sicher gehen, dass tatsächlich eine Störung vorliege, bevor sie ihre Kinder in eine Therapie stecken, die den Kleinen einiges abverlangt. Der erste Schritt ist der Gang zum Kinderarzt - der kann viel genauer feststellen als Mama und Papa, ob mit dem Kind etwas nicht in Ordnung ist.

Das "Sch" hat Zeit bis zur Einschulung

Auf eine Entwicklungsstörung kann hindeuten, wenn ein Kind sich oft nicht wohl fühlt, schlecht schläft, sich einnässt oder nicht gern in den Kindergarten geht. Bode empfiehlt außerdem eine Untersuchung, wenn ein Kind mit zwei Jahren noch keine 50 Wörter beherrscht oder mit zwei bis drei Jahren noch nicht deutlich sprechen kann. Mit vier sollte es die Grammatik können und alle Laute bis auf das "Sch" - dieser schwierige Laut hat Zeit bis zur Einschulung.

Ein Grund zur Sorge kann auch dann vorliegen, wenn das Kind mit eineinhalb Jahren noch immer nicht frei laufen kann. Ebenfalls zu einer Untersuchung rät Bode, wenn es mit zwei bis drei Jahren ständig hinfällt oder mit mehr als vier Jahren noch keinen Stift oder Löffel halten kann.

Falsches Bauchgefühl

Für das übervorsichtige Verhalten vieler Eltern nennt der Kinderarzt mehrere Gründe: Zum einen bescheinigt er ihnen eine "mangelnde intuitive Kompetenz" - viele Eltern seien heute kaum mehr fähig, ihr Bauchgefühl bezüglich der Kinder richtig einzuschätzen. Das liegt nach Bodes Meinung daran, dass heute nur noch wenige Kinder geboren werden. Viele Eltern haben keine Ansprechpartner, die ihre Sorgen beschwichtigen könnten - früher seien Probleme mit den Kindern und deren Entwicklung viel häufiger ein Thema in der Familie oder bei Freunden gewesen.

Auch die Medien machen Kinder in Sendungen wie der "Supernanny" immer wieder zum Thema - und tragen so zusätzlich zur Verunsicherung der Eltern bei.

Zwang zur Perfektion

Doch nicht nur Verunsicherung der Eltern spielt eine Rolle, hat Bode festgestellt, sondern auch übergroße Erwartungen. "Eltern versuchen, zum Teil mit aller Macht, ihre Kinder zur Perfektion zu zwingen." Eine Lern- oder Leistungsschwäche werde oft verdrängt - viele Eltern könnten sich nicht mit dem Gedanken abfinden, dass ihr Kind nicht mit den anderen mithalten könne. Der Gang zum Therapeuten scheint ihnen eine zwingende Konsequenz.

Und auch in der Therapie läuft dann einiges schief. "Manche Eltern geben ihre Kinder einfach in der Therapie ab, ganz nach dem Motto 'Der Therapeut macht das schon' ", sagt Bode. Dabei ist es unerlässlich, dass Eltern miteinbezogen werden. "Therapeuten sollten den Eltern Hausaufgaben geben, so dass diese den Tagesablauf so gestalten können, dass die Entwicklung gefördert wird."

Kindergärtnerinnen überfordert

Doch nicht nur den Eltern gibt Bode die Schuld daran, dass Kinder in Deutschland unnötig zur Therapie geschickt werden, sondern auch Lehrer und Erzieher. Die Ausbildung zur Kindergärtnerin lasse in Deutschland zu wünschen übrig, kritisiert der Kinderarzt: Kindergärtnerinnen würden nicht ausreichend darin geschult, Entwicklungsstörungen zu erkennen. Auch manche Lehrer wüssten nicht, wie sie mit verhaltensauffälligen Kindern umzugehen haben.

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