"Sag das nicht!" – diesen Titel trug ein stern-Essay aus dem Juni 2022, als Deutschland noch andere Sorgen hatte und zum Beispiel darüber stritt, ob man noch "Winnetou" lesen dürfe. In ihrem Text machte sich stern-Kolumnistin Jagoda Marinić Luft über die sogenannte Woke-Bewegung, die aus guten Gründen gegen die Diskriminierung etwa von Schwarzen und Queeren aufbegehrte – und dabei immer drastischere Mittel befürwortete, etwa Auftrittsverbote für Männer und Frauen, die allzu konservative Meinungen zu Themen wie dem Gendern vertraten.
Marinić, die 1977 in Waiblingen als Tochter kroatischer Einwanderer geboren wurde und mit 20 Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen hatte, beschrieb eine Szene, in der es einen Wettstreit darum zu geben scheint, wer die größten Diskriminierungserfahrungen gemacht habe.
Die Reaktionen der stern-Leserschaft waren beachtlich: Viele bedankten sich bei Marinić für ihre Worte. Die Autorin ist seither in vielen Kolumnen auf das Thema zurückgekommen; nicht minder gern legt sie sich aber auch mit Alphamännern wie Friedrich Merz oder Elon Musk an. Ihr neues Buch, das den Titel "Sanfte Radikalität" trägt, führt viele Gedanken fort, die Marinić erstmals in "Sag das nicht!" formuliert hat.
Frau Marinić, in Ihrem Essay beschrieben Sie damals, wie ein Deutscher Ihnen die kroatischen Wurzeln absprach: "Es ist rassistisch, deine Herkunft auf die deiner Eltern festzulegen", sagte er Ihnen. Seitdem hätten Sie Abstand genommen zur Woke-Bewegung, führten Sie aus. Ist Wokeness heute noch unser größtes Problem?
Ich sage nicht Woke-Bewegung, aber ja, es gab diese emanzipatorische Bewegung, die eigentlich hätte gut laufen müssen, weil sie der Demokratie gutgetan hätte. Mich hat sie verloren, seit das Prinzip "Jeder gegen jeden" herrscht, obwohl man die gleichen Ziele hat. Dann kam dieser Moment, den ich im stern beschrieben habe, als ich merkte: Krass, jetzt kann ich nicht mal mehr sagen, wie ich zu meiner Herkunft stehe, sondern es gibt ein heimliches Regelwerk für alle Minderheiten. Das hat vor einigen Jahren die Mehrheit der Aktivisten beschlossen, und gut meinende liberale, oft linke Deutsche haben sich dem angeschlossen. Im Ergebnis sagte man mir: Du darfst nicht mehr sagen, dass du Wurzeln am Mittelmeer hast, weil: Du bist ja von hier. Es definiert also jemand von außen, wie ich mit meiner eigenen Biografie umgehe.