Westermann liest Liebes-Doppelleben: Ein Roman vom Haben und Sehnen

Christine Westermann
Buchtipps von Christine Westermann
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© Selina Pfrüner
Moderatorin, Journalistin und Autorin Christine Westermann stellt auch diese Woche wieder ihr Lieblingsbuch vor. In "Der Papierpalast" lebt die Protagonistin gleich zwei Lieben.

Gut, wenn der Großvater vom Fach ist. "Das Einzige, was du wissen musst", sagte der Großvater der Autorin, bevor sie anfing zu schreiben, "ist: Eine gute Geschichte hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende, und das Ende muss am Anfang schon durchschimmern."

Das Ende ist in der Tat mitreißend, aber "Der Papierpalast" von Miranda Cowley Heller hat auch schon einen richtig guten Anfang. Schauplatz ist ein Sommerhaus auf Cap Cod an der amerikanischen Ostküste. In einer lauen Nacht, an die Holzwand ihres Ferienhauses gedrückt, hat Elle heftigen Sex mit ihrem Jugendfreund Jonas. Das wäre nicht weiter spektakulär, würden nicht ein paar Meter weiter im Haus bei offenen Fenstern Elles Ehemann und ein paar Freunde sitzen. Fröhlich trinkend und komplett ahnungslos.

Chaotische Familienverhältnisse

Elle ist 50 Jahre alt, hat drei Kinder, ist zufrieden verheiratet, alles okay. So fühlte es sich an, bis ihr Jugendfreund Jonas mit seiner Familie auf der Insel Urlaub macht. Mit dem Sex an der Hauswand setzt sich eine Geschichte fort, die vor vielen Jahren begann. Jonas war damals Elles Freund, sie waren ineinander verliebt, nur miteinander zu schlafen, das hatten sie sich verboten. Das Warum wird eine wichtige Rolle in diesem Roman spielen, der sehr geschickt zwischen Vergangenheit und Gegenwart wechselt.

Für Elle und ihre Schwester ist die Vergangenheit geprägt von chaotischen Familienverhältnissen. Die Mutter heiratet dreimal, die Stiefväter bringt eigene Kinder mit, das Patchworkmodell geht dramatisch schief. Elles Mutter nimmt es locker: Scheidungen tun Kindern gut, meint sie, weil unglückliche Menschen immer interessanter sind als glückliche. Elle heiratet nur einmal: Peter, einen Bilderbuchmann, liebevoll, attraktiv, toller Vater und auch noch wohlhabend. Es könnte alles perfekt sein, wäre da nicht Jonas. Jetzt lebt Elle zwei Leben. Das eine, was sie schon hat. Und das andere, wonach sie sich sehnt.

Ein Buch voller Zweifel und Sehnsucht

"Der Papierpalast" ist der erste Roman der Autorin, sie war schon Mitte 50, als sie ihn schrieb. Vorher, sagt sie, ging es nicht, es brauchte erst mal viel Lebenserfahrung. Dabei zählt sie mit ihren Drehbüchern für "Die Sopranos", "Six Feet Under" oder "The Wire" in Wahrheit schon lang zu den Großen ihrer Branche.

"Der Papierpalast" von Miranda Cowley Heller, übersetzt von Susanne Höbel. Ullstein, 448 Seiten, 23,99 Euro
"Der Papierpalast" von Miranda Cowley Heller, übersetzt von Susanne Höbel. Ullstein, 448 Seiten, 23,99 Euro
© Ullstein

Mehr Erfahrung hat dennoch nicht geschadet: Es gelingt ihr perfekt, jene Zweifel und auch jene Sehnsucht zu beschreiben, die man in sich spürt, wenn man schon ein großes Stück seines Lebens gelebt hat und nicht mehr weiß, wo es langgehen soll. Braucht es Mut, um etwas zu ändern? Oder Mut, um alles so zu lassen, wie es ist? Wird man bereuen, was man tut? Oder bereuen, was man nicht getan hat?

Den Tipp des Großvaters, einst Lektor bei einem großen amerikanischen Verlag, hat die Enkelin perfekt umgesetzt. Diese unglaublich gute Geschichte hat ein spektakuläres Ende. Weil tatsächlich schon am Anfang durchschimmert, wie es ausgehen wird, man sich aber 441 Seiten lang nicht sicher sein kann.

Erschienen in stern 19/2022