Ach wie schön, gleich dreitausend, nein, achthundert, na, nicht übertreiben - hundert E-Mails aber bestimmt von erbosten iPhone Besitzern nach meiner letzten Kolumne. Regt euch doch nicht so auf! Ihr dürft ja jederzeit nachgucken, wer wann welches Tor geschossen hat und dürft beim Essen lustige Maulwurf-Videos auf Youtube vorführen, jederzeit, überall, weltweit. Nur an meinem Tisch nicht. Und wann seid ihr denn schon mal an meinem Tisch? Also, viel zuviel Aufregung.
Nun zu neuen Themen: Da heißt es doch immer, das Buch ist tot. Na! Neuerdings wird bei Google abgedruckt und geklaut und verwurstet, dass es nur so kracht. Schon gibt es Appelle dagegen, jeder will anscheinend lesen, was das Zeug hält. Die Methode allerdings erinnert an die der Piraten, die neuerdings ja schon Kreuzfahrtschiffe kapern. Ich war mal auf so einem Schiff, da gab es eine Bibliothek. Ob die Piraten es auf Rosamunde Pilcher abgesehen haben?
Die hochvornehm verkorksten Wittgensteins
Eine neue Familie gibt es zu entdecken: nach den vornehm verkorksten Manns und den einfach nur reichen Krupps kommen jetzt die superreichen und hochvornehm verkorksten Wittgensteins dran, österreichischer Stahl, Vater Karl und Mutter Poldi kriegten neun Kinder. Eins starb früh, drei Söhne brachten sich als junge Männer um, Ludwig hielt durch und wurde Philosoph, Paul berühmter Pianist mit nur einem Arm, aber die echten Knaller waren die Schwestern - Hermine, Helene, Margherita. Alles hatten sie im Griff, das ganze seelische Unglück wurde mit zarter harter Hand verwaltet, bis auch das letzte bisschen Glück in Scherben lag - man hält den Atem an vor soviel Bosheit. Lea Singer hat einen Roman eigentlich über Paul geschrieben, "Konzert für die linke Hand" (Hoffmann und Campe), aber im Grunde über diese ganze gruselige, unvorstellbar reiche Familie. Krieg? Ach Gott, doch nicht im Palais Wittgenstein, nur draußen, in der Welt - "Überall auf dem Planeten ist es denen, die über Macht und Geld verfügen, möglich, ihr Dasein auszukosten im perfekt isolierten Privatreich, in das nichts vom Geschrei und Gemetzel derer da draußen eindringt."
Zur Person
Begonnen hat Elke Heidenreich als Fernsehjournalistin beim SWR. Erste Popularität errang Deutschlands bekannteste Literaturkritikerin durch ihre kabarettistischen Auftritte als "Else Stratmann" im öffentlich-rechtlichen Fernsehen während der Olympiasendungen aus Los Angeles 1984 und Seoul 1988. Sie verfasste mehrere Bücher und moderierte zahlreiche TV-Sendungen wie "Literaturmagazin", "Durchblick", "Kölner Treff" oder "live". Zuletzt moderierte sie die Literatursendung "Lesen!" im ZDF, die sie mittlerweile im Internet präsentiert.
Ja, beim Ersten Weltkrieg ging das noch, aber als der Hitler kam, entdeckte er bei den katholisch konvertierten Wittgensteins plötzlich jüdische Wurzeln. Sie konnten gerade noch mit dem Vermögen die Emigration erkaufen. Eine sehr spannende und hoch unterhaltende Familiensaga, und sehr schön auch, was Philosoph Ludwig über sich selbst an die Familie schrieb: "Freilich, ich muss es zugeben, meine Größe setzt mich oft selbst in Staunen, und ich kann sie nicht fassen, trotz der enormen Größe meines Fassungsvermögens." An wen erinnert uns denn das bloß? An viele! Heute sagt man es halt nicht mehr ganz so gerade heraus.
Eine jahrtausendealte Kulturlandschaft verschwindet
Die Kanadierin mit den dicken Locken, Anne Michaels, hat zehn Jahre nach dem atemberaubenden Buch "Fluchtstücke" einen zweiten Roman geschrieben: "Wintergewölbe" (Berlin Verlag). Sehr still, sehr intensiv, sehr schön. Ein Paar, eine große Liebe in einer verschwindenden Welt - der Assuan Staudamm wird gebaut, uralte Heiligtümer versinken oder werden zersägt und an anderer Stelle rekonstruiert, eine jahrtausendealte Kulturlandschaft verschwindet. Die Liebe hält das nicht aus. Ganz, ganz langsam und über kleine Dinge finden beide wieder zueinander in einer Welt der Verwüstung, diesem eiskalten Wintergewölbe, in dem man die Toten aufbewahrt.
Elke Heidenreichs "Lesen!"
Die populäre Literatursendung "Lesen!" wird im Internet fortgeführt. Elke Heidenreich präsentiert dort regelmäßig das "Buch der Woche" unter http://litcolony.de/littv.
Von solchen Büchern und von Christoph Schlingensiefs wildem Antoben gegen die Möglichkeit des Sterbens rede ich auf www.litcolony.de jetzt jede Woche neu, das Buch der Woche. Da gibt es zum Beispiel die schöne Liebesgeschichte von Montse und Santiago, deren Leben fatal aneinander vorbei verläuft, und als sie sich dann endlich wiedertreffen, bleibt nur ein Blick, ein Vielleichterkennen, Liebe? Ist das wichtig im Leben? Ach, so sehr dann auch wieder nicht. Leben ist wichtig, erst mal. Luis Leante hat mit "Liebst du mich" (Fischer) darüber ohne Rührseligkeit geschrieben.
Lieben Sie mich getrost nicht, aber lesen Sie, was ich Ihnen vorschlage. Und für die ganz Begriffsstutzigen auch gern noch mal: nein, es handelt sich nicht um Literaturkritik. Es handelt sich einfach nur um Lesevorschläge von einer, die weiß, was sie da liest und tut. Das bedeutet nicht, dass ich Sie aus dem Garten der Vernunft ins Reich des Blöden schicken möchte. Aber ein bisschen Leidenschaft, Herrschaften, kann nicht schaden.