Hong Ying Die Überlebensschreiberin

Von Adrian Geiges
Ihr eigenes Leben liefert der chinesischen Bestseller-Autorin Hong Ying Stoff für aufrüttelnde Romane.

Eltern und Geschwister vergaßen ihren Geburtstag jedes Jahr. "Klein-Sechs", wie sie alle nannten, war das sechste Kind und dazu noch ein Mädchen. Millionen Chinesen verhungerten, "warum auch noch diesen Bastard durchfüttern", sagten manche in ihrer Familie. Alle wussten: Sie war von einem fremden Mann gezeugt. Als "Klein-Sechs" sechs Jahre alt war, schickte ihre Mutter sie nicht in die Schule, sondern zu Verwandten aufs Land. "Lesen und schreiben - was soll sie damit anfangen!", schimpfte die Mutter damals.

Aus "Klein-Sechs" ist die Bestseller-Autorin Hong Ying geworden. Wenn sie davon erzählt, dann klingt es so, als wundere sie sich selbst, wie sie das alles geschafft hat. 2Meine Verwandten, mittellose Bauern, waren zu arm, um einen weiteren Menschen zu ernähren", erinnert sich die sanfte, geradezu schüchtern wirkende 42-Jährige. Sie reicht Eistee in ihrem Pekinger Luxusappartment, das sie sich selbst zum Geburtstag geschenkt hat, spricht mit ihrer hellen Stimme weiter: "Mehrere Angehörige teilten die Last und bekochten mich abwechselnd. Wenn nur ein Weizenfladen übrig war, gaben sie ihn mir und gingen selbst hungrig ins Bett."

Nach anderthalb Jahren kam ein Brief von ihrer Mutter mit Geld für die Rückreise in die Stadt - die Zeichen hatte ihre ältere Schwester gepinselt, denn die Mutter ist bis heute Analphabetin. "Hätte sie es sich nicht plötzlich anders überlegt, wäre ich eine einfache Bäuerin geworden", sagt Hong Ying. So lernte sie doch noch lesen und schreiben - und wie! Sie begann mit Gedichten. Schon die Lehrer in der Schule erkannten ihr Talent. Sie erhielt einen Preis, schaffte es auf die Literatur-Akademie in Peking.

Brot allein reichte dem einstigen Hungerkind nun nicht mehr. Als die Studenten 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens für Freiheit und Menschenrechte demonstrierten, war sie dabei. Die Regierung schickte Panzer. Doch wieder hatte Hong Ying Glück. Während andere Demonstranten auf offener Straße erschossen wurden oder jahrelang im Gefängnis verschwanden, überlebte sie unbehelligt. "Ich sah das als Verpflichtung", sagt sie, "als Verpflichtung darüber zu schreiben." Ihre Augen starren in die Leere, immer wieder spuken die Bilder von damals durch ihren Kopf.

Anderthalb Jahre nach dem Massaker schaffte sie die Aufnahmeprüfung für eine englische Universität. Dort lernte sie auch ihren Mann kennen, der als Literaturwissenschaftler im Londoner Stadtteil Bloomsbury arbeitet. Mittlerweile ist sie britische Staatsbürgerin. Sie schwebt zwischen den Kulturen, an manchen Tagen sogar äußerlich sichtbar: Heute trägt sie ein ärmelloses Kleid mit Blumenmuster, oben wie ein traditioneller Qipao geschnitten, unten wie ein europäischer Rock. Auf Partys redet sie viel mit ausländischen Managern, die in China investieren. "Die sind so naiv", schimpft sie, "sie sehen nicht, wie verrottet dieses Land ist. Korrupte Kader und Geldwäscher schwelgen im Luxus, während die meisten Chinesen darben."

All das liefert ihr Stoff für Romane, die die "New York Times" als "rau und kraftvoll" pries. "Tochter des Gelben Flusses" erzählt das Schicksal eines unehelichen Kinds, das während der Hungersnot von der Mutter verstoßen wird. "Der chinesische Sommer" handelt von einer Liebe in den Tagen des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Männliche Hauptperson in "Die chinesische Geliebte" ist Julian Bell aus dem Literatenkreis des Londoner Stadtteils Bloomsbury, der Neffe von Virginia Woolf. Dieser Roman stand in Deutschland wochenlang auf der Bestsellerliste.

Hong Yings Bücher erschienen in 25 Ländern. Doch sie bleibt China verbunden, trotz des Leids, das sie hier erlebt hat - oder, wie sie sagt, "auch wegen dieses Leids". Hier wohnt sie mehr als die Hälfte des Jahres. Sie schreibt in ihrer Muttersprache. Alle ihre Romane, mit Ausnahme von "Der chinesische Sommer", durften in der Volksrepublik veröffentlicht werden. Sie ziert Cover von Zeitschriften hier und ist ein Liebling des chinesischen Feuilletons. Manchmal schließt sie Kompromisse. "Ich bin Schriftstellerin, keine Politaktivistin", sagt sie. "Ich kann nur etwas erreichen, wenn ich gedruckt und gelesen werde." "Die chinesische Geliebte" wurde in China zunächst wegen "Ahnenbeleidigung" verboten. Eine Klägerin glaubte, ihre Mutter zu erkennen in der Heldin, die den jungen Bell in die taoistische Liebeskunst einführt. Hong Ying änderte Namen und Ort, dann konnte das Buch erscheinen.

Für ihren neuen Roman "Der Pfau weint" kehrte sie zu den Stätten ihrer Kindheit am Jangtse-Strom zurück. Der Drei-Schluchten-Staudamm versenkt diese bald in den Fluten. 1,2 Millionen Menschen werden zwangsumgesiedelt, darunter auch Hong Yings Familie.

Die Heldin des Romans, die Pekinger Genforscherin Liu Cui, ist mit dem Direktor des Staudamm-Projekts verheiratet. Der Karriere-Kader, bisher ein unaufmerksamer Ehemann, schickt ihr Parfum. Für die Gattin ist das der Hinweis: Er hat eine Affäre. Sie fliegt zum Damm - und kommt dabei nicht nur ihrem Mann auf die Schliche, sondern auch Korruption, Umweltzerstörung und Unterdrückung im modernen China...

"Bei den Steinstufen traten Polizisten brutal auf einen am Boden liegenden Mann ein", heißt es in der deutschen Fassung von "Der Pfau weint". In der chinesischen Ausgabe sucht man vergeblich nach solchen Sätzen. "Die Zensoren bitten dich nicht um Erlaubnis", sagt die Autorin traurig. "Auch ihnen geht es um die Karriere. Sie streichen, was der Führung nicht passen könnte." Was sie aus dem Roman gemacht hatten, sah Hong Ying erst, als er gedruckt war. Manchmal veränderte sich der Sinn völlig. Die Heldin legt ihren Kopf an die Schulter eines Freunds. Klingt nach Romantik, wenn der Absatz davor fehlt: "In diesem Augenblick hörte sie ein Dröhnen über sich, das immer näher kam. Da erkannte sie einen Polizeihubschrauber, der die Hänge mit Scheinwerfern absuchte, und dann sah sie auch eine Gruppe von Polizisten mit Maschinenpistolen, die im Licht der Scheinwerfer bergauf liefen."

Kann die Schriftstellerin mit den zusammengestutzten Texten leben? "Ich bin froh, dass der Roman in China erschienen ist", sagt sie. "Die Aussage wurde geschwächt. Aber es ist das erste Buch hier, das sich kritisch mit dem Drei-Schluchten-Damm auseinandersetzt." Deshalb durfte es in China nicht beworben werden. Trotzdem wurden schon 100.000 Exemplare verkauft, eine hohe Zahl in der Volksrepublik, wo nach wie vor wenig Menschen Bücher lesen.

Man fragt sich: Wie schafft Hong Ying das? Aber das hat man sich bei "Klein-Sechs" auch gefragt.

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