Die Russen haben nach Einschätzung eines führenden Moskauer Literaturkritikers ihre Liebe zu Büchern auch über die Probleme des tiefen Umbruchs hinweg gerettet. "Heute lebt es sich wieder leichter in unserem Land, also liest es sich auch wieder leichter" sagte der Chefredakteur der wöchentlichen Literaturbeilage der Zeitung "Nesawissimaja Gaseta", Jewgeni Lessin, in Moskau.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion habe sich die gesellschaftliche Rolle der Schriftsteller geändert. Die Autoren hätten "die Rolle der Priester abgelegt", sagte Lessin, der selbst ein Literaturstudium als Dichter am renommierten Gorki-Institut absolviert hat. "In der Sowjetunion gab es keine Opposition, keine Kirche. Deshalb haben die Menschen an Bücher wie Gebete geglaubt."
Bücher bleiben wichtig
Eine gut gefüllte private Bibliothek sei auch heute noch wichtig für Russen, selbst für reich gewordene "neue Russen", die allgemein als kulturlos gelten, erklärte Lessin. Der Buchliebhaber widersprach der landläufigen Klage, im modernen Russland seien Bücher zu teuer geworden. "In der Sowjetunion waren Bücher teuer", meinte er. "Gute Bücher aus offiziellem Verlag waren, selbst wenn sie nominell zwölf Kopeken kosteten, am Kusnezki Most nur für 25 Rubel zu haben."
Jeder dritte Russe schreibt Gedichte
Auf diesem populären Schwarzmarkt im Moskauer Zentrum tauschten oder verkauften Buchsammler ihre seltenen Schätze. Mittlerweile seien russische Neuerscheinungen zwar teuer, doch werde Literatur durch Zweitauflagen und Taschenbuchausgaben schnell erschwinglicher, sagte Lessin. Bis heute versuchten sich viele Russen zudem selbst im Schreiben, sagte er. "Jeder dritte Russe hat irgendwann einmal Gedichte geschrieben."