Heute Morgen wieder den Nachbarn gesehen. Herr N., wir wohnen seit 20 Jahre auf derselben Etage. Herr N. ist schon alt, seit ein paar Monaten hilft ihm ein Stock beim Gehen. Er geht jeden Morgen zum Mülleimer, in der Hand immer eine kleine Tüte, die er dort ausleert und wieder mitnimmt. Auf die Frage, warum er nicht so einen großen Beutel wie die anderen benutzt, dann müsse er nicht jeden Tag hinunter, lacht Herr N.: "Nein, mit dem Abfall ist es wie mit den schlechten Gedanken und den Sorgen, die werfe ich jeden Morgen weg, dann geht es mir besser und der Tag ist sauber für Neues." Herr N. muss ein glücklicher Mensch sein und ihm zuzusehen macht einen selbst auch etwas glücklicher.
So, und jetzt lassen wir aus dieser schönen Geschichte mal die Luft raus: Sie ist erfunden. Herrn N. gibt es so nicht, jedenfalls nicht in der Nachbarschaft. Oder nicht, dass man es wüsste, was auch daran liegen mag, dass man nie gefragt hat. Oder in der falschen Gegend lebt. Oder generell: falsch lebt. Und tun wir das vielleicht alle, wenn wir die N.s in unserem Leben nicht erkennen?
Das zumindest fragt man sich nach 176 Seiten "Jetzt ist gerade alles gut", dem neuen Buch von Stephan Schäfer, der mit "25 letzte Sommer" vor einem Jahr schon einen überraschenden Sinnsucher-Bestseller lieferte. Überraschend deshalb, weil man glaubte, mit den Büchern von Paulo Coelho oder den "Café am Rande der Welt"-Schmökern von John Strelecky sei eigentlich alles über die Suche der inneren Balance gesagt. Aber die Bücherregale der Erbauungs-Poesie scheinen unendlich Platz zu haben, Ratgeber-Literatur war auch auf der Frankfurter Buchmesse das Genre, das wohl auffällig brummt.
Ein Schnitt im Finger wird zur Zäsur
Doch Stephan Schäfer ist zunächst klug genug, nicht einfach noch mehr Kalenderspruch-Weisheiten zu liefern oder seine "25 Sommer"-Kartoffelbauer-Geschichte fortzusetzen, sondern mit mächtigem Real Life einzusteigen. Schäfer, früher mal Journalist – und, muss hier gesagt werden, einst CEO des Senders RTL, zu dem auch der stern gehört – erzählt von einem Tag, an dem ihn plötzliches Fieber befiel und es ihm rasend schnell sehr schlecht ging. Dann wurde alles sehr unangenehm: Noch am Abend ins Krankenhaus, eine dicke, entzündete Wunde am Finger, Ärzte mit besorgten Gesichtern, das Wort "Amputation" in der Luft, aber auch der Trost einer Ärztin "Sie leben." Passiert war es beim Zweibelschneiden, ein kleiner Ratscher in den Finger, Entzündung, Sepsis, hätte schief gehen können. 85.000 Menschen sterben jedes Jahr in Deutschland an sowas. Schäfer erzählt all das mit der warnenden Dringlichkeit eines "Apotheken Umschau"-Reporters und man ist da noch ganz bei ihm, was auch seine Absicht ist, kommt doch danach der Spaziergang durch ein, sein Leben, das er – man ahnt es – nun mit ganz anderen Augen sieht.
Mit den Augen fürs Wichtige, fürs wirklich Lebenswerte, und um die Butter gleich dick zu streichen, zitiert er Rilkes Gedicht "Über die Geduld": "Man muss Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben." Wie schon in seinem ersten Buch bewundert man Stephan Schäfer hier dafür, wirklich keine Angst vor Klischees zu haben, man könnte sogar glauben, er suche sie, um jede Uneindeutigkeit zu vermeiden. In einem Café, das natürlich auch ein Buchladen "gleich um die Ecke" ist, stehen Bistrotische "von einem Flohmarkt in Südfrankreich", eine Frau, die ebenfalls eine Krankheit überstanden hat, lebt nun "in einem kleinen Dorf in Portugal und betreibt eine Yoga-Schule".
Stephan Schäfer sieht das Glück im etwas zu unglaubwürdig Alltäglichen
Und so gehen die Begegnungen weiter, bei seinem "Lieblingsitaliener" mit der "besten Bolognese der Stadt" trifft er auf einen alten 83-jährigen Kellner und Witwer, der sich ohne die Beschäftigung dieses Jobs langweilen würde und der ihm, handgeschrieben natürlich, das Bolognese-Rezept zusteckt. Und dann trifft er Uli, selbstverständlich im Vinyl-Plattenladen, wo beide Jazz-Platten kaufen, und Uli ist zufällig der Bäcker im, na klar, Lieblingscafé und kann nur backen, wenn er Jazz hört. Im ICE nach Berlin sitzt Schäfer dann auch noch zufällig ein Glücksforscher gegenüber, der über sein Unglück philosophiert, und irgendwann wird gemeinsam Gebäck gegessen. Es wird überhaupt oft gegessen und dann ist es "eine Offenbarung, außen knusprig, innen weich (…) Es schmeckte nach Kindheit und Geborgenheit."
Der deutsche Sprachforscher Roland Kaehlbrandt verwies neulich auf Goethes Wort der "Schönheitelei", was es gut trifft. Doch irgendwann häufen sich diese Stellen, an denen Schäfer knapp an der erträglichen Banalpromille vorbeischrammt, und man würde ihm gerne zurufen: "Noch ein 'gemütlich eingemummelt' oder 'selbstgebacken' und du hast eine Woche Schreibverbot."
Auch deshalb, weil Schäfer in dieser dick gepinselten Bullerbü-Kulisse manchmal die wirklich interessanten Dramen des Menschlichen zwar findet, aber nicht weiß, was er damit machen soll. Die Sepsis und der wohl über Monate dick verbundene Finger spielen schon bald keine Rolle mehr. Und die Geschichte, dass einer seiner besten Freunde auf einmal nichts mehr von ihm wissen will, woraufhin der Erzähler zum Geburtstag des Freundes ratlos vor der Tür der Feier steht und sich nicht hineintraut, bleibt im Buch wie unerledigt liegen. Es sind Störungen seiner heilen Welt, die er den "Knacks" nennt. Aber dann kommt auch schon wieder der nächste selbstgebackene Kuchen und warmer, süßer Kakao um die Ecke.
Es wird Lesende geben, die "Jetzt ist gerade alles gut" dennoch sehr mögen werden. Lesende, denen alle Klischees egal sind, weil sie darin die Wiedererkennbarkeit schätzen. Und die Bücher lesen, weil sonst niemand zu ihnen spricht. Der Sprachforscher Kaehlbrandt nimmt solch kitschgefärbten Bücher auch in Schutz: Sie könnten Trost spenden.
Und so ist das Beste, was man über dieses Buch sagen kann, dass es manche lesen werden und vielleicht nach 20 Jahren mal ihren Nachbarn fragen, wie es ihm geht.
Stephan Schäfer, "Jetzt ist gerade alles gut", park x Ullstein, 22,00 Euro