Claire hat ein stetig größer werdendes Problem. Vor dem Spiegel sieht sie ihren Bauch Tag für Tag wachsen. Sie fürchtet sich vor ihrer Schwangerschaft, verdrängt sie und möchte nicht, dass ihre Arbeitskolleginnen im Supermarkt etwas merken. Mit weiter Kleidung versucht sie ihr Problem zu kaschieren. Als immer mehr Leute sie mit ihren zusätzlichen Pfunden necken, erfindet sie eine Krebserkrankung. Ihr dicker Bauch käme vom Kortison, sagt Claire (Lola Naymark). Der Vergleich ihres heranwachsenden Babys mit einem größer werdenden Tumor zeigt, wie verzweifelt sie ist.
Feinfühliges Porträt eines schwangeren Teenagers
Der französische Film "Die Perlenstickerinnen" (Orginaltitel "Brodeuses") beschreibt feinfühlig die Ängste und Sorgen einer werdenden Mutter im Teenageralter. Der Vater ihres Kindes, ein kurzes Abenteuer, spielt keine Rolle, er taucht nur in einer Szene auf. Regisseurin Eléonore Faucher interessiert sich zunächst nur für Claire, zeigt die Distanz zu ihrem Kind, die Ablehnung des eigenen Körpers, das Verdrängen der Schwangerschaft und das Unverständnis für diese Situation. Dabei wählt sie eindrückliche Bilder, die schlicht sind und dennoch zum Nachdenken anregen. So lässt die französische Nachwuchsregisseurin ihre Heldin Claire auch noch hochschwanger auf ihrem Mofa durch französische Dörfer knattern - ohne Rücksicht auf sich oder ihr Kind.
Und obwohl die Kernfrage des Films höchst brisant ist, Claire weiß nicht, ob sie das Kind behalten soll, erhebt Faucher in ihrem Kinodebüt nie den moralisch mahnenden Zeigefinger. "Die Perlenstickerinnen" schildert Claires Verzweiflung ohne übertriebene Melancholie oder aufgezwungene Ethikdebatte. Der Film ist selbst wie eine der Perlen, die Claire leidenschaftlich auf Fäden aneinander reiht, ein wenig unscheinbar und doch wunderschön. Bei den Filmfestspielen in Cannes wurde das Drama 2004 mit dem großen Preis der Semaine de la Critique ausgezeichnet.
Aus ihrer Einsamkeit wird Claire erst gerissen, als ihre beste Freundin Lucile (Marie Félix) vom Studium in die Provinz zurückkehrt. Sie überredet Claire, bei der Perlenstickerin Madame Melikian (Ariane Ascardide) um einen Job nachzufragen. Die Perlenstickerei ist Claires Passion. Um sich edle Materialien wie Fell und Seide leisten zu können, stibitzt sie sogar Kohl auf den Feldern ihrer Eltern und verkauft ihn. Ihre Arbeiten überzeugen die strenge Kunsthandwerkerin. Sie nimmt Claire probehalber auf. In aller Pracht der farbigen Stoffe und glänzenden Perlen setzt Madame Melikian den Gegenpol. Sie trägt komplett schwarz, trauert um ihren verstorbenen Sohn. Er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Schuld hatte sein bester Freund Guillaumes, der mit quälenden Besuchen bei der trauernden Madame Melikian Abbitte leistet.
Über das Sticken finden sie eine gemeinsame Sprache
Faucher erzählt aber nicht nur Geschichten von menschlichen Höhen und Tiefen. Mit "Die Perlenstickerinnen" gibt sie einen Einblick in das kunstvolle Handwerk, erforscht mit der Kamera die Stoffe und zeigt Arbeit, die zu Erfüllung werden kann. In der Werkstatt entstehen märchenhafte Kleider für die Laufstege der großen Modehäuser, aber auch Gebrauchskleidung für Normalsterbliche. Die Perlenstickerinnen arbeiten an allen Stücken mit Liebe und finden über das Sticken eine gemeinsame Sprache.
Claire blüht im Atelier auf und gewinnt durch Madame Melikian Lebensmut zurück. In ihr findet Claire eine Ersatz-Mutter, die Halt gibt. Doch die Rollenverteilung ist fließend. Als ihre Chefin mit der Trauer nicht fertig wird und versucht mit einer Überdosis Schlaftabletten ihren Problemen zu entfliehen, rettet Claire sie. Täglich besucht sie Madame Melikian im Krankenhaus und übernimmt Verantwortung. Als die Perlenstickerin aus der Klinik kommt, bewahrt Claire sie vor der selbstzerstörenden Trauer und auch der völlig verzweifelte Guillaumes findet bei ihr nicht nur eine Schulter zum Anlehnen. Doch beide können Claire ihre schwere Entscheidung nicht abnehmen.
Hauke Friederichs