Bei einem Festival der Größenordnung von Cannes gehört es zum Alltag, dass sich wildfremde Menschen aus allen Kontinenten über den Weg laufen; sich schon frühmorgens nebeneinander und mit viel Geächze und Gestöhne in viel zu enge Kinosessel zwängen; sich in Pressekonferenzen um das Mikro für die, meist dämlichen, Fragen zu streiten. Sich aber auch zum Essen in einem der unzähligen Bistros und Restaurants der verwinkelten Altstadt von Cannes verabreden. Telefonnummern austauschen. Oder gleich im Hotelzimmer des anderen landen.
Der Kulturkampf geht weiter
Alles wie im Film also: Manchmal küssen sie sich. Manchmal schlagen sie sich. Auf Englisch nennt man sowas "culture clash". Leute unterschiedlichster Kulturen krachen aufeinander. Und am Ende gewinnen immer die Amerikaner. Oder? Gestern wetterte jedenfalls Jury-Präsident Emir Kusturica in einem Interview mit der US-Fachzeitschrift "Variety" noch einmal über den von ihm so verhassten Mainstream aus den USA. Zitat: "Britney Spears ist ein wichtiger Mensch in meinem Leben geworden. Gegen meinen Willen. Wenn ich aus Versehen den Fernseher anlasse, kommen unbekannte Menschen in mein Zimmer wie radioaktives Gift". Und auch rund um den Festival-Palast entdeckt man genügend Anzeichen für den beliebten und ewig währenden Kulturkampf Alte Welt gegen Neue Welt.
Beweisstück 1
: Die alten französischen Männer, die genüßlich den lieben langen Tag auf dem zentralen Platz am Hafen dem Boules-Spiel frönen. Viel mehr "Old Europe" geht nicht. Und doch trägt einer von ihnen ein knallrotes Werbe-T-Shirt von den "Unglaublichen", dem letzten Animations-Blockbuster von Pixar und Disney. Ob er deshalb besser rumkugelt als seine Mitstreiter, konnte leider nicht geklärt werden.
Beweisstück 2
: Es gibt bald einen neuen Film mit "Wallace & Gromit". Das sind ein Erfinder und sein schweigsamer Hund, beide aus Knetgummi modelliert und in liebvoller und mühsamer Detailarbeit animiert. Ihre Abenteuer, ihr Humor: Alles "very british". In Cannes wurden erste Ausschnitte präsentiert. Finanziert wird das Ganze jedoch von einem großen amerikanischen Studio. Und so stieg der Empfang nach der Präsentation im amerikanischen Strand-Pavillion, nicht im britischen. Na, wenn das kein Kulturimperialismus ist…
Beweisstück 3
: Woody Allens neues Werk "Match Point". Wunderbar besetzt mit Jonathan Rhys Meyers und Scarlett Johansson in den Hauptrollen, erzählt er die tragische Geschichte eines jungen Tennistrainers, der in die britische Oberklasse einheiratet und sich gleichzeitig auf eine Affäre mit der Verlobten seines Freundes einlässt. Einer der besten Allen-Filme seit vielen Jahren, der hier leider nur außerhalb des Wettbewerbs läuft. Allen hat "Match Point" nicht, wie üblich, in New York gedreht, sondern in London. Warum? Allen: "Wenn Amerikaner meinen Film finanzieren, wollen sie überall reinreden. Sie wollen vorher das Drehbuch lesen, mitbestimmen, welche Schauspieler ich besetze. Regelmäßig meine Aufnahmen prüfen. So habe ich noch nie in meinem Leben gearbeitet und so werde ich nie arbeiten. Ich will einfach nur das Geld in einer braunen Papiertüte und ein paar Monate später liefere ich ihnen einen Film."
Beweisstück 4
: Ein Computer-Arbeitsplatz im Pressezentrum. Ein Amerikaner steht kurz auf, um einen Ausdruck aus dem Drucker zu holen. Ein massiger Franzose kapert kurzerhand seinen Platz und will nicht mehr weichen. Es wird laut, böse Blicke. Schließlich greift eine Schlichterin ein, der Amerikaner siegt, auch wenn der Franzose noch ein bitteres: "Sag bloß kein Wort mehr. Du bist hier in Frankreich" hinterherschickt.
Vorschlag zur Güte: Wir behalten Woody Allen. Die Amis schicken noch mehr Werbe-T-Shirts. Und wir gehen mit den Franzosen im britischen Pavillon essen. Oder ins Hotel.
Matthias Schmidt