Cannes macht es einem nicht leicht, sich auf das zu konzentrieren, für was man eigentlich angereist ist: Filme gucken. Große Filme, kleine Filme. Filme von seit Jahren etablierten Regisseuren oder Erstlingswerke. Filme, die im Wettbewerb um die "Goldene Palme" laufen oder in einer der drei Nebenreihen, die so wohlklingende Namen tragen wie "Un Certain Regard", "Semaine Internationale de la Critique" oder "Quinzaine des Réalisateurs". Warum man es nicht immer wie geplant in die entlang der Croisette verstreuten Kinosäle schafft, liegt nicht einmal am Sonne-Sandstrand-Mittelmeer-Faktor, der automatisch Urlaubsgefühle weckt, sondern an den zahlreichen Parties und Events, die zum Festival gehören wie ein Glas Wasser zum Espresso.
Partys ohne Ende
Da lockt jeden Abend die Lounge auf einer von "Arte" gemieteten Yacht im Hafenbecken mit Champagner und Star-Watching. Gestern schwebte zum Beispiel die zauberhafte Sophie Marceau über die Planken. Da feiern am gleichen Abend die Leute von Dreamworks und die Macher von "Kill Bill". Ob das nun ein rauschendes Fest in einem Schloss in den Hügeln von Cannes mit 2000 Gästen ist oder ein eher privates Abendessen im kleinen Kreis, merkt man meist erst, wenn man angekommen ist. Und weil das noch nicht genug ist, steigt am selben Abend die beliebte "MTV"-Party, diesmal in einer orientalisch angehauchten Villa, in der angeblich schon Elizabeth Taylor und George Clooney residierten. Diesmal ließen sich zumindest Michael Madsen und Daniel Brühl blicken.
Vier Kurzkritiken
Aber wir wollten ja eigentlich Filme sehen und über Filme berichten. Jetzt also endlich mal vier Kurzkritiken. Der japanische Wettbewerbsbeitrag "Nobody knows" erzählt behutsam aber umso eindringlicher von vier Kindern, die von ihrer alleinerziehenden Mutter im Stich gelassen werden. Das wenige Restgeld ist bald aufgebraucht, Wasser und Strom werden abgestellt. Was zum Teil wie ein Kinderspiel wirkt, kippt ins Tragische, als sich das jüngste Mädchen bei einem Sturz verletzt.
Auch der ebenfalls japanische Film "The Taste of Tea" behandelt eine Familiengeschichte. Eine Großfamilie - Großvater, Eltern, Kinder, Onkel - in der jedem Mitglied so viele bizarre Dinge zustoßen, dass man daraus eine ganze Vorabendserie drehen könnte. Yakuza-Gangster, eine Frau, die ihren Boss verprügelt, ein Mädchen so groß wie ein Hochhaus, um nur einige zu nennen. Das ist schön anzusehen, der dezente Einsatz von Computereffekten verleiht dem Ganzen märchenhafte Züge, 2 Stunden 23 Minuten sind aber doch etwas zuviel des Guten.
Die Amis glänzen neben ihrem Sommerhit "Shrek 2", in dem vor allem die von Antonio Banderas gesprochene Miezekatze, ein Klon aus "Gestiefeltem Kater" und Zorro, für beste Unterhaltung sorgt, mit Debütfilmen von blutjungen Regisseuren. "Mean Creek" nimmt den Alltag einer Gruppe Teenager unter die Lupe, die sich an einem berüchtigten Schulhof-Tyrannen rächen will. So wird eine Bootsfahrt auf dem Fluss organisiert, die am Ende im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Ruder läuft. Ein erstaunlich souveräner Film, der zwar an amerikanische Klassiker wie "Stand By Me" erinnert, durch seine Ruhe und Beobachtungsgabe aber mehr ist als bloße Kopie.
In "Tarnation", für ein paar Hundert Dollar komplett am Apple Computer geschnitten und bildbearbeitet, erzählt Jonathan Caouette alles über seine Mutter. Durch sinnlose Elektroschock-Behandlungen haben ihr übereifrige Ärzte den Verstand geraubt, was Caouette schonungslos und intim dokumentiert. Mag seine Bildsprache auch anstrengen, die emotionale Botschaft sitzt: "Tarnation" wurde mit stehenden Ovationen gefeiert. Auch eine Art Party.
Matthias Schmidt