Drückt man Play und benutzt auch noch Kopfhörer, fängt ein kleiner Mann im Ohr an zu brüllen. Noch bevor das erste Gitarrenriff der neuen CD von Tristania ertönt, wird der Hörer gnadenlos niedergeschrien. "Libre" heißt der erste Song auf "Ashes", und der Mann, der da brüllt, ist tatsächlich vergleichsweise klein, heißt Kjetil Ingebrethsen und hat "Extreme Vocals" in seiner Jobbeschreibung stehen. Bei dem norwegischen Gothic-Metal-Septett ist er für Grunzen, Kreischen und Schreien zuständig - und offenbart schon mit seinem exzessiven Begrüßungsauftritt, was der Rest der CD bestätigt: Tristania gehen in ihrem vierten Studioalbum keineswegs chartlüstern-weichgespült zu Werke. Verändert haben sie sich dennoch - und viele Fans werden etwas vermissen.
Heraus aus der Masse
Aus der unübersichtlichen Masse der in den 90ern in Nordeuropa aus dem Boden geschossenen Gothic-Metal-Bands hatten sich Tristania nach ihrer Gründung 1996 schnell in den Vordergrund gespielt: Sie folgten von Anfang an dem genretypischen Wechselspiel aus einer männlichen garstigen Stimme und dem engelsgleichen Gesang einer Frau, erzeugten aber durch Hinzunahme einer weiteren, melodischen Männerstimme mehr Abwechslung. Musikalisches Fundament waren - ebenfalls genreüblich - dunkel gestimmte, wabernde, nicht allzu schnelle Gitarrenläufe. Darauf aufgesetzt und miteinander kombiniert wurden Elemente aus der klassischen Orchestermusik, Pianoklänge, akustische Gitarren, Geigen und jede Menge Chöre. All das haben Tristania nicht selbst erfunden, aus diesen Elementen aber auf drei Alben so atmosphärisch dichte, mitreißende Songs gebaut, dass ihnen nur wenige Bands folgen konnten.
Und nun "Ashes".
Vier Jahre sind seit dem letzten Album "World of Glass" vergangen. Tristania haben neben Keifmeister Ingebrethsen auch noch einem weiteren langjährigen Sessionmusiker einen Arbeitsvertrag in die Hand gedrückt: Østen Bergøy sorgt für die tiefen melodischen Männerparts.
Weg damit
Ansonsten wurde allerdings viel rausgeschmissen: Die Chöre? Weg. Geigen? Fehlanzeige. Klangteppiche aus dem Synthesizer? Kaum noch. Tristanias Sound hat sich verändert. Vibeke Stenes Sopran steht weniger im Vordergrund als bei den Vorgängeralben, ihre männlichen Sangeskollegen haben auf "Ashes" so viel zu tun wie sie. Der Bombast, das Symphonische wurden reduziert, hinzu kamen neue Klänge wie die eines Cellos ("Shadowman", "Endogenisis" und "The Wretched") oder einer Hammond-Orgel ("Bird"). Spannend: Engelsstimmchen Stene, Tieftöner Bergøy und Brüllbruder Ingebrethsen singen in "The Wretched" einen verstörend schrägen Chor. In den acht neuen Songs (die Limited Edition von "Ashes" bietet einen Bonus-Track: "The Gate") verbreiten die Norweger 48 Minuten lang ihre bewährte Mischung aus Düsternis und Melancholie und wagen musikalisch einige Experimente. Auch das Artwork der CD verzichtet auf die Standard-Motive des Metal - Mädchen, Drachen, Gräber etc. - und erscheint statt dessen schlicht als verbranntes Pergament.
Sucht nach der Wucht
Das ist - besonders angesichts des chronischen Ideenmangels innerhalb des Gothic-Metal-Genres - alles sehr löblich. Und leider nicht annähernd so packend wie die Vorgängeralben. So wie es keine schlechten Songs auf der ganzen CD gibt, fehlen ebenso jegliche Höhepunkte. Auch innerhalb der Stücke gibt es kaum Steigerungen. Wo ist das kleine Inferno für zwischendurch, das älteren Songs wie "Angina" und "Angellore" ihre Wucht verlieh? Es fehlt irgendwie. Tristania scheinen momentan mit weniger Energie zu Werke zu gehen als früher. Was bleibt, wenn das Feuer erlischt, ist "Ashes".