Man muss nur wenige Bilder im Internet gesehen haben, um zu wissen, dass man Deutschlands neuesten Popstar eigentlich nicht treffen will. "Der Graf" ist glatzköpfig, hat eklige weiße Augen, schwarz lackierte Fingernägel und unter beiden Mundwinkeln einen Dreiecksbart. Dazu Dracula-Blick und satanisches Grinsen.
Mit mulmigem Gefühl betritt man ein abgewracktes Kölner Bürogebäude im Hinterhof. Von der Straße her nicht einsichtig. Werden hier schwarze Messen gefeiert? Es geht durch einen langen schmalen Gang. Eine Tür öffnet sich, dahinter ein hagerer Mann. "Ich habe einen Termin beim "Grafen"." - "Beim "Grafen"? Hahaha... Kommen Sie mal mit!" Das erinnert doch sehr an Jonathan Harkers ersten Besuch auf einer gewissen transsylvanischen Immobilie. Der Typ deutet auf ein abgewetztes Sofa. "Setzen Sie sich. "Der Graf" kommt gleich."
Ein Blick auf das Handy: "Suche Netz". Nach wenigen Augenblicken schwere Schritte im Flur. Da ist er. Ziemlich groß, ziemlich kahl - und ziemlich sympathisch. Wie redet man ihn an? "Ich sag immer: Sagt einfach "Herr Graf, wie geht's dir?""
Der Herr Graf - er könnte Mitte 30 sein - hat noch immer diese komischen Bartdreiecke, trägt ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte. Sonst aber ist er im Vergleich zu den Internetfotos stark verändert. Die Augen sind nicht mehr weiß und die Nägel nicht mehr schwarz. "Vor vier Jahren hab' ich aufgehört, mir die Finger zu lackieren", erzählt er. "Und diese gefärbten Kontaktlinsen tun auch weh, wenn man die sechs Stunden anhat. Es gibt natürlich Leute die sagen "Ach ja, jetzt wird er kommerziell." Aber es war nie meine Intention, nur Leute aus einer bestimmten Szene als Hörer zu haben."
Gemeint ist die Schwarze Szene, in der der Graf und seine Band Unheilig lange Jahre ein Geheimtipp waren. Damals trat er noch in Kutte auf. Aber langsam entstieg er der Subkultur, und dieses Jahr ging's Schlag auf Schlag. Sein Lied "Geboren um zu leben" lief rauf und runter im Radio. Das Album "Große Freiheit" belegte inzwischen 15 Mal Platz eins der deutschen Hitparade, einmal mehr als der bisherige deutsche Rekordhalter Herbert Grönemeyer, der 1988 mit seinem Album "Ö" 14 Mal an der Spitze stand.
Internetforen zufolge heißt der Graf im wahren Leben Bernd Heinrich Graf. Er will das nicht kommentieren. "Das ist einfach, um mein Privatleben da rauszuhalten, deshalb hab' ich das Pseudonym. Atze Schröder heißt ja auch nicht Atze Schröder. Ich betreibe halt ein bisschen Geheimniskrämerei. Wie das Rumpelstilzchen - niemand weiß, wie ich heiß."
Er redet wie ein Wasserfall, und je mehr er erzählt, desto klarer wird: Dieser "Graf" beißt nicht. Er stottert höchstens ein bisschen. Als Kind war er extrem schüchtern, konnte niemandem in die Augen sehen, hat nur das Nötigste gesprochen. "So bin ich auch zur Musik gekommen. Da konnte ich klimpern auf meiner Orgel und brauchte nicht zu reden, und die Leute haben mir zugehört. Wenn ich jetzt auf der Bühne vor Menschen stehe, ist das ein innerer Sieg. Das ist eigentlich das Schönste, was die letzten Jahre passiert ist."
Seine Texte schreibt "der Graf" selber. Sie handeln vom Meer und von der Freiheit und spielen stellenweise ins Grönemeyerhafte. "Ich war immer ein extrem nachdenklicher Mensch und konnte das dann irgendwie in Texte packen. Warum, woher das kommt - weiß ich nicht."
Schüchtern, nachdenklich, uneitel - woher dann das Fledermaus- Image? Konkret gefragt: Hat er was mit Satanismus zu tun? "Nein, auf gar keinen Fall", beteuert er und wirkt richtig erschrocken. "Der Graf" zahlt sogar Kirchensteuer. "Ich bete für mich selber, jeden Tag. Ich glaube auch an dieses klassische Paradies, wie es von der Kirche gepredigt wird. Aber ich konnte nie was mit den ganzen Geboten und Gesetzen anfangen. Und wer so denkt, ist in den Augen aller Religionen ein Unheiliger. Daher kommt der Name."
Der Erfolg ist ihm nicht zugefallen, er hat zehn Jahre dafür gearbeitet. Morgens um acht im Studio, mittags eben mit dem Hund raus. Die Familie und seine Eltern sind ihm wichtig. Und heimatverbunden ist er. "Ich bin in Aachen geboren, und da will ich auch bleiben."
Brav, "der Graf". Unterm Strich bleibt der Eindruck eines cleveren Typen, der sich im richtigen Moment auf ein Mainstream-Publikum eingestellt hat. Schwiegermütter werden ihn lieben. Die Musikkäufer tun es schon.