Mein Vater ist 84. Er wandert jeden Tag zwei Stunden, geht dreimal in der Woche ins Fitnessstudio. Er isst ab 14 Uhr nur noch einen Apfel und praktiziert so schon seit Langem Intervallfasten, ohne zu wissen, was das ist. Er trinkt keinen Alkohol. Wenn er zum Check-up beim Arzt ist, sagt der: "Die Werte hätte ich auch gern." Mein Vater hat aber auch im Urlaub vor zwei Jahren in zwei nebeneinanderliegenden, ähnlich eingerichteten Häusern die Badezimmer verwechselt, wusste kurz nicht mehr, wo er war. Es hat ihn schockiert. Meine Mutter saß später weinend neben mir und sagte: "Jetzt geht es los." Sie ist 81 und genauso fit wie er.
Meine Eltern haben gehofft, so wie wir beiden Töchter, dass das wohl ewig so weitergeht, bis sie eines Tages einen relativ schnellen, unspektakulären Tod sterben. So wie meine Großmutter und meine Urgroßmutter, die sich beide nur mit kleineren Altersbeschwerden jeweils mit 83 ins Bett legten, nicht mehr aufstanden und verkündeten: Jetzt will ich nicht mehr, genug gelebt. Zeit zu gehen. Sie starben innerhalb von zwei Wochen. Meine Eltern leben daher nach dem Grundsatz: Gesprochen wird erst über den letzten gemeinsamen Weg, wenn schon gestorben wird. Ein Davor existiert nicht. Aus Angst, aus Verdrängung, aus bodenlosem Optimismus? Sie wollen nicht darüber reden, dass sie plötzlich pflegebedürftig werden könnten, vielleicht fast gleichzeitig, über schwindende Kräfte, unvernünftige Entscheidungen, Festhalten am Unmöglichen.
Wir Töchter, 59 und 57, fragen uns, wer sich dann um sie kümmern soll und um das Haus, das sie auf keinen Fall für eine Pflegeeinrichtung verlassen wollen? Ich wohne 400 Kilometer entfernt, meine Schwester hat mit der eigenen Gesundheit zu kämpfen, wir haben es vielleicht auch deshalb vermieden, das Thema bisher von uns aus anzusprechen. Was aber wird sein, wenn mein Vater vielleicht nicht nur Sachen vergisst, sondern eventuell auch die Frau, mit der er seit 61 Jahren verheiratet ist?