Die deutsche Ostsee Paddeln im Schilfmeer

Not-Landung im Schilfgürtel, Wasserwanderrastplätze und meerwassergetränkte Butterbrote - was zwei Familien mit Kindern in Nordvorpommern erlebten, stellt jede Fernreise in den Schatten.

Jakob mag Boote. Vor allem auf dem Papier. Aber in ein echtes Boot einsteigen, noch dazu in ein solches, das kippelt, wenn man nur mit dem Fuß dagegenstupst, kommt für ihn nicht in Frage. Vielleicht muss eine Familien-Kanutour so beginnen: mit Panik und Protestgebrüll, mit kleinen Händen, die sich verzweifelt am Bootssteg festklammern, mit Eltern, die vor Scham am liebsten unter die Wasserlinie sinken würden. Und dann doch entschlossen das Paddel eintauchen - in der Hoffnung, dass sich die Gefühlsstürme schon beruhigen werden. Denn eigentlich sind Tag und Ort ideal, um ein für alle Mal das Fürchten zu verlernen, vor dem Bootfahren, dem Wasser und der großen wilden Natur überhaupt.

Sicherheit an Bord

Der Himmel: blau, ohne ein Wölkchen. Die Lufttemperatur hat mittsommerliche 25 Grad und das Boddenwasser ist mittelmeerwarm und spiegelglatt. Natürlich kann ein Paddelboot, rein theoretisch, auch unter solchen Bedingungen kentern, erklärt unser Bootsmann. Zum Beispiel, wenn am Ufer ein Wildschweinrudel durchs Schilf bräche und die ganze Besatzung vor Aufregung gleichzeitig von den Sitzbänken hochspränge. In diesem Fall würden uns jedoch unsere Rettungswesten vor dem Untergang bewahren. Und natürlich die kräftigen, geübten Hände unseres Bootsmanns und seiner Kollegen.

Zickzackkurs durch Nordvorpommern

Sie gehören zum Team des ortsansässigen Unternehmens "natürlich kanu", das unsere kleine Flotte in den nächsten vier Tagen begleiten wird: zwei Familien mit insgesamt sieben Kindern, verteilt auf zwei Kajaks und zwei Kanadier-Boote. Unsere Fahrt wird uns im weiten Zickzackkurs durch die Boddengewässer Nordvorpommerns führen - vom Grabow östlich von Barth hinauf zur Halbinsel Fischland-Darß-Zingst, die den Bodden wie ein langer, schmaler Riegel von der Ostsee abschirmt. An der schmalsten Stelle von Fischland wollen wir schließlich unsere Boote über Land transportieren, um an unserem letzten Tag ein Stück auf der "echten" Ostsee zu paddeln.

Völlig losgelöst

Nach der Abfahrt hat sich Jakob erst einmal tief zwischen Bänken, Beinen und Gepäcktonnen versteckt, aber nach und nach wagt er doch erste vorsichtige Blicke über den Bootsrand. Eine Schwanenfeder auf dem Wasser, ein paar Fischreusen, die umschifft werden müssen, ein Ausflugsdampfer, der die Fahrtroute kreuzt - das sind, im großen und ganzen, die dramatischsten Vorkommnisse unseres ersten Tages auf dem Bodden. An Land würde man einen solchen Tag vielleicht als langweilig bezeichnen, auf dem Wasser aber verlieren Begriffe wie "Langeweile", "Dauer" oder auch "Weg" und "Entfernung" schnell ihre gewohnte Bedeutung.

Leben im Bodden

Der Bodden ist kein richtiger Binnensee, gehört aber auch nicht mehr zum Meer, mit dem er nur noch über einen schmalen Zufluss zwischen dem Ostzipfel von Zingst und der Südspitze von Hiddensee verbunden ist. Er ist so flach, dass wir selbst weit vom Ufer entfernt immer wieder mit dem Paddel auf Grund stoßen. Doch selbst an den seichtesten Stellen kann man nicht bis auf den Grund blicken. Die überreiche Fracht an Nährstoffen, die von gedüngten Feldern und über mehrere Zuflüsse in den Bodden gespült wird, lässt Plankton in Fülle gedeihen - und natürlich zahlreiche größere Wasserbewohner, die sich davon ernähren. Das ist erstaunlich, weil der Bodden im Grunde ein extremes, für die meisten Tier- und Pflanzenarten unwirtliches Biotop ist: Sein Salzgehalt ist für viele Meeresorganismen zu niedrig, für reine Süßwasser-Bewohner dagegen zu hoch.

Verstecktes Treiben

Diese Lebensfülle können wir vom Boot aus allerdings nur ahnen. Zwar brüten wenige Meter von uns entfernt Haubentaucher und Rohrammern, sprießen seltene Salzwiesengewächse wie Strand-Astern, Salz-Binsen und Meerstrand-Dreizack, lauern womöglich mächtige Hechte auf Blei- und Stichlingsschwärme. Doch all das bleibt verborgen hinter Plankton- und Algenwolken und mächtigen Schilfwänden. Nicht mal ein Wildschweinrudel tut uns den Gefallen, ans Ufer vorzudringen.

Dem nassen Element vertrauen

So enttäuschend das für uns naturhungrige Erwachsene ist - für die Kleineren, denen Wasser und Wildnis noch nicht so geheuer sind, hat es auch etwas Beruhigendes. Denn was man nicht sehen und hören kann, muss man auch nicht fürchten. So lassen Jakob und die gleichaltrige Anni schon am zweiten Tag ganz sorglos ihre Hände über den Bootsrand baumeln.

Not-Landung im Schilfgürtel

Doch vor dem großen Badespaß am sicheren Ufer steht ihnen noch ein richtiges Abenteuer bevor: eine Not-Landung bei schwerer See. Kurz vor Fuhlendorf, an der südlichen Boddenküste, ist eine leichte Nachmittagsbrise aufgekommen, und schon Minuten später spüren wir, wie sich die Bootswände unter den Schlägen der Wellen förmlich nach innen biegen. So ist das immer hier, erklärt unser Bootsmann: Weil der Grund des Boddens so flach ist, entwickeln sich selbst kleine Wellen schnell zu harten, schaumgekrönten "Brechern". Für unsere flachen, offenen Kajaks kann eine solche Dünung zwar nicht gefährlich, aber doch ziemlich unangenehm werden. Müssten wir, ungeübt wie wir sind, noch eine weitere Stunde gegen solche Wellen anpaddeln, wären unsere Oberarme am nächsten Tag womöglich nicht seetüchtig. Also steuern unsere Bootsführer lieber die nächste erreichbare Lücke im Schilf an.

Am Wasserwanderrastplatz

Manche dieser Schilf-Lücken am südlichen Boddenufer sind breit genug, um einem Streifen Strand Raum zu geben, und wenn daneben noch eine Mole liegt und dahinter eine Wiese mit Toilettenhäuschen, dann heißt das Ganze "Wasserwanderrastplatz". Nach der Wende sind rund um den Bodden ein halbes Dutzend solcher Plätze eingerichtet worden, in der Hoffnung, naturverbundene Touristen von der Küste ins Hinterland locken zu können. Bisher, so scheint es, hält sich der Andrang in Grenzen: An der Mole des Rastplatzes von Neuendorf schaukeln jetzt, Ende Juli, nur ein knappes Dutzend Jollen und Kutter, die Wiese und den Strand haben wir weitgehend für uns allein.

Ungeliebte Wildnis

Wenn man auf den weiten, leeren Bodden hinausblickt, mag man kaum glauben, dass sich drüben, am nördlichen Ufer und dahinter am Ostseestrand, Zehntausende von Touristen um die besten Plätze drängeln, dass zwischen Fischland und Zingst Hotelzimmer und Campingplätze auf Wochen hinaus ausgebucht sind. Eigentlich erstaunlich, dass es von diesen vielen naturverbundenen Urlaubern nur so wenige aufs Wasser hinauszieht. Vielleicht liegt es daran, dass der Bodden, bei all seiner Schönheit, doch zu sehr Wildnis ist, zu unberührt und ungeregelt. Vielleicht spielt es auch eine Rolle, dass der Bodden für Boote mit größerem Tiefgang ein unwegsames Gewässer ist.

Diskussion um den Durchstich

Yachtbesitzer und örtliche Tourismusmanager hoffen allerdings auf einen neuen Durchstich zwischen Bodden und Ostsee. Der könnte die anhaltende Verlandung stoppen und die Gewässer vor Barth wieder schiffbar machen. Doch bisher ist umstritten, wo dieser Durchstich erfolgen könnte. Allein drei Gemeinden entlang der Halbinsel bieten sich als Standort für einen möglichen Kanal an, jede in der Hoffnung, dadurch touristisch aufgewertet zu werden.

Schonfrist für die Natur

So lange sie hoffen und streiten, dürfen Fischotter, Graugänse, Rohrsänger und Riesenhechte jedoch weitgehend unter sich bleiben. Bis heute ist die vorpommersche Boddenküste eine der letzten deutschen Landschaften, deren Gestaltung fast ausschließlich den Kräften der Natur überlassen ist. Wenn wir in 20 oder 30 Jahren wieder hierher kommen, werden die Schilfinseln dort drüben im Saaler Bodden vielleicht längst an eine andere Stelle gewandert sein oder sich durch Verlandung zu einem riesigen Schilfmeer verbunden haben. Oder sie werden für immer versunken sein - wiedererobert von der Ostsee, die sich ihren Weg durch neue, vom Menschen oder von klimabedingten Sturmfluten geschaffene Kanäle gebahnt hat.

Stürmisches Finale

Das größte Abenteuer steht uns allen noch bevor, am letzten Tag, als unsere Boote hinüber zur Ostsee gebracht worden sind. Der Himmel: bedeckt. Das Wasser: kühle 19 Grad. Wind aus Nordost, Stärke zwei bis drei. Mehr darf es auch nicht werden, sagt der Bootsmann mit besorgtem Blick zum Horizont, wenn unsere Flotte es heute noch bis Ahrenshoop schaffen soll. Aber wir sind ja mittlerweile geübte Seefahrer, und die Jungmatrosen klettern so selbstverständlich auf die Bootsbänke wie sonst in ihre Kindersitze im Familienauto. Keine Angst- oder Protestschreie. "Und wenn ein Hai kommt", sagt Jakob entschlossen, "dann nehm ich mein Taschenmesser und stech ihn ab!" Fortan sind wir vollauf damit beschäftigt, unser Boot immer schräg gegen die Wellen zu steuern und dabei möglichst auch noch vorwärts zu kommen. Als wäre das nicht schon genug, müssen wir auch noch die Kinder bändigen, deren Stimmung mit zunehmenden Windstärken und Wellenhöhen immer ausgelassener wird.

Feuchtes Happy End

Und so, genau so muss eine Familien-Kanutour enden: mit nassen Hosen und schmerzenden Nackenmuskeln, mit meerwassergetränkten, aber dennoch heißhungrig verschlungenen Butterbroten, mit Kindern, die nach der Landung erschöpft am Strand hocken bleiben, bibbernd vor Kälte und vor Stolz. Dass wir das geschafft haben! Vier Kilometer Meer aus eigener Kraft! Voll der Hammer, sagt Jakob. Das ist sein neuer Lieblingsausdruck, den er vom Bootsmann gelernt hat. Würde er so eine Tour noch mal machen wollen? Nein. Äh - doch. Doch, doch, DOCH! Aber jetzt, bitte, erst einmal eine trockene Hose.

Geo.de

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