Wenn Florian Wolff seinen Dienst antritt, weiß er nie, was ihn in den folgenden zwölf Stunden erwartet. Hühner im zehnten Stock? Ein Mann, der glaubt, ein Geheimdienst habe ihm Insekten verabreicht? Oder einer, der aus Liebeskummer den Rettungsdienst ruft? All das hat Wolff schon erlebt.
Der 26-Jährige arbeitet als Notfallsanitäter in einer deutschen Großstadt. 2024 erfasste und dokumentierte er jeden seiner Einsätze detailliert und digital. Die Idee dazu war ihm bereits in der Ausbildung gekommen, als er mehrere Berichtshefte pflegen musste. Später führte er sie fort, aus wissenschaftlichem Interesse und um verschiedene Rettungswachen miteinander vergleichen zu können.
Das Ergebnis hat Wolff* dem stern zur Verfügung gestellt. Es ist quasi ein "Rettungsdienst Wrapped", sein persönlicher, datenbasierter Jahresrückblick. Der ist zwar nicht repräsentativ, vermittelt aber einen interessanten und exklusiven Einblick in die Arbeit eines Notfallsanitäters.
Bei einem Notruf alarmiert die Rettungsleitstelle das nächste Fahrzeug am Einsatzort. "Wir bekommen eine Alarmmeldung mit einem Stichwort – zum Beispiel Atmung, Kreislauf, Verletzung, Reanimation, Vergiftung – und teilweise einem kurzen Bemerkungstext", erläutert der Sanitäter. Gegebenenfalls alarmiere die Leitstelle direkt ein Notarztfahrzeug mit.
Nach der Ankunft am Einsatzort müsse die Lage schnell eingeschätzt werden: "Innerhalb der ersten Minute sollte sich entscheiden, ob der Patient akut lebensbedroht ist, ob eine sofortige Behandlung vor Ort oder ein sofortiger Transportbeginn nötig ist oder ob zunächst genauer nachgeforscht und untersucht werden kann", erklärt Wolff. Bei Bedarf werde ein Notarzt nachgefordert. "Ist ein Transport notwendig, müssen wir erst abklären, welches der vielen Krankenhäuser die notwendigen Kapazitäten frei hat." Nach der Übergabe des Patienten und dem Wiederherstellen der Einsatzbereitschaft – unter anderem Putzen, Auffüllen von Material und Dokumentation – melde sich die Besatzung wieder einsatzbereit und fahre zur Wache.
1202 Einsätze standen am Ende des Jahres bei Wolff zu Buche. Durchschnittlich etwa alle zwei Stunden kam ein neuer herein. Ein Einsatz dauert meist zwischen einer und anderthalb Stunden. 2333 Stunden war Wolff seinen Aufzeichnungen zufolge 2024 im Dienst.
Als Notfallsanitäter ist Florian Wolff in der Regel Chef auf dem Rettungswagen und hat die medizinische und einsatztaktische Verantwortung. Als Fahrer ist zumeist noch ein Rettungssanitäter mit an Bord. Der Unterschied: Der Notfallsanitäter ist die höchste nichtärztliche Qualifikation im Rettungsdienst. Die dreijährige Ausbildung wird mit einem Staatsexamen abgeschlossen. Rettungssanitäter wird man in der Regel mit einer mehrmonatigen Fortbildung. Auch bei zwei Notfallsanitätern hat einer den Hut auf, sagt Wolff, "wie bei Pilot und Copilot im Flugzeug".
Patienten halten sich selten ans Lehrbuch
Die Vorgehensweise bei einem Einsatz laufe zwar zum Teil nach Standardprozeduren und Fließdiagrammen für spezifische Szenarien ab, aber "Patienten halten sich selten ans Lehrbuch", erzählt der 26-Jährige. Je nach Situation müssten seine Kollegen und er unzählige große und kleine Entscheidungen selbst treffen. "Nicht umsonst ist Notfallsanitäter der einzige nichtärztliche Gesundheitsfachberuf, der heilkundlich tätig werden oder Betäubungsmittel eigenständig verabreichen darf", so Wolff.
Mehr "echte" Einsätze als gedacht
Gibt es etwas, dass ihn bei der Auswertung seiner Daten überrascht hat? "Verschiedenes", antwortet Wolff. Mit dem Schmerzmittel Piritramid etwa sei er großzügiger umgegangen, als er angenommen hatte. Auch andere Zahlen seien höher ausgefallen als zunächst gedacht. Etwa die der medizinisch indizierten, also quasi wirklich notwendigen Einsätze im Vergleich zu Bagatell- oder Fehleinsätzen. Oder die der chirurgischen Notfälle, was Wolff sich teilweise durch viele am Ende unkomplizierte Kopfplatzwunden und Kopfverletzungen erklärt, die immer eine Klinikabklärung benötigen. "Echte Schwerverletzte sind in der Innenstadt dagegen eine absolute Rarität", sagt er.
"Niedergelassene Ärzte sehen uns oft als 'Krankenträger', die von Medizin keine Ahnung haben
Nach den größten Hürden in seinem Job befragt, nennt Wolff die Schnittstellen, an denen es potenziell zu Reibungen komme: Notaufnahmen, Hausärzte, Leitstellen. "Letztlich sollten wir alle miteinander dasselbe Ziel verfolgen, aber es wird gestritten, sich gegenseitig die Arbeit schwer gemacht", kritisiert er. "Niedergelassene Ärzte sehen uns oft als 'Krankenträger', die von Medizin keine Ahnung haben, während sie sich selbst vor 30 Jahren zuletzt mit Notfallmedizin beschäftigt haben."
Nicht selten gebe es auch in Krankenhäusern Diskussionen darüber, warum ein Patient gebracht wurde. "Als wären wir die Verursacher des jeweiligen Leidens oder als würden wir undifferenziert jeden ins Krankenhaus bringen." Dass Pflegekräfte im Rahmen der neuen Fachweiterbildung Notfallpflege nun ein paar Wochen im Rettungswagen mitfahren müssen, habe zuletzt jedoch für mehr gegenseitiges Verständnis gesorgt.
Darüber hinaus sei die Arbeitsbelastung enorm, beklagt Wolff. Gearbeitet werde in Zwölf-Stunden-Schichten ohne geregelte Pausen. Die Folge: "Oft müssen wir uns aus Snackautomaten ernähren oder wir schummeln mit dem Klarmelden am Krankenhaus und fahren vorher noch zum Bäcker um die Ecke, wobei das natürlich durch die Leitstelle gar nicht gerne gesehen wird". Klarmelden bedeutet, dass sich ein Rettungswagen bei der Leitstelle wieder einsatzbereit meldet.
Auch Anfeindungen und blöde Kommentare hat Wolff wie viele seiner Kollegen schon häufiger erlebt. Meist kämen diese von Personen unter Alkoholeinfluss – Konsumenten anderer Drogen seien einfacher zu händeln. Außerdem könne es passieren, dass Angehörige von Patienten ausfällig werden. In emotionalen Ausnahmesituationen werde dann einiges gesagt, dass nicht so gemeint sei.
Es gebe aber auch Kollegen, die aufgrund ihres Auftretens immer wieder Probleme bekämen. Körperliche Angriffe seien jedoch eher selten, auch wenn es immer mal Einzelfälle gebe. Oft helfe "gutes Situationsbewusstsein, besonnenes Auftreten und rechtzeitiger Rückzug" bei der Entschärfung. Die mediale Berichterstattung zu diesem Thema empfindet der 26-Jährige als "teilweise dramatischer als nötig".
Rettungsdienst: ein Job ohne Grenzen
Und was gefällt ihm an seinem Job am besten? "Wir kommen in alle gesellschaftlichen Schichten, vom Luxushotel zur Flüchtlingsunterkunft, sind in Hinterzimmern jeglicher Gewerke, gehen täglich durch Absperrungen und Türen, auf denen 'kein Zutritt' steht und kommen an Orte, die dem Normalbürger verwehrt bleiben", erzählt Wolff. "So haben wir einen sehr realistischen Einblick in unser Zusammenleben als Gesellschaft und wo sich Probleme verstecken. Langweilig wird es nie". Der Beruf vermittele außerdem ein gutes Gespür für Menschen und besonnenes Handeln in Extremsituationen.
Wer schon einmal jemanden erfolgreich reanimiert hat, weiß, dass dieses Gefühl für einiges entschädigt
Die Erlebnisse wechselten sich in seiner täglichen Arbeit so schnell ab, dass vieles schnell vergessen werde. Auch das sei ein Grund, warum er seine Datensammlung begonnen habe, als eine Art Tagebuch, wie Florian Wolff sagt. "Wenn ich meine Gedanken schweifen lasse, kommen natürlich auch tragische Geschichten und Bilder. Meine Lieblingseinsätze sind aber die, die auf eine Weise lustig sind oder eine gewisse Skurrilität mit sich bringen". Wie etwa die eingangs erwähnte Patientin, die im zehnten Stock eines Wohnblocks auf dem Sofa saß und eines ihrer Hühner streichelte, die sie in der Wohnung hielt.
"Dazu gibt es Einsätze, in denen wir unmittelbar helfen und die Situation verbessern können, sei es durch Händchen halten oder intensivmedizinische Interventionen", erklärt Wolff. Und weiter: "Ein Danke ist dabei zweitrangig. Wer schon einmal jemanden erfolgreich reanimiert hat, weiß, dass dieses Gefühl für einiges entschädigt."
*Hinweis: Der Name wurde auf Wunsch des Protagonisten geändert, seine Identität ist der Redaktion bekannt.