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Jahrhunderthochwasser Flut an der Ahr: Dieser Mann entscheidet, welche Häuser zu retten sind – und welche man abreißt

Torsten Raths’ Job ist die Gefahrenabwehr. Im Auftrag des Bauamts prüft er, was gesperrt oder abgerissen werden muss
Torsten Raths’ Job ist die Gefahrenabwehr. Im Auftrag des Bauamts prüft er, was gesperrt oder abgerissen werden muss
© Murat Türemis
Viele Häuser an der Ahr müssen nach der Flut abgerissen werden. Für die ehemaligen Bewohner bricht damit ihre Welt zusammen. Zumindest ein wenig Trost ist ihnen gewiss – von unerwarteter Seite.

Der Mann steht vor dem, was einmal sein Zuhause war, blickt auf die Baggerschaufel, die sich dem Dach nähert, zieht tief an seiner Zigarette und hält die Tränen zurück. Viel hat die Ahr nicht gelassen von seinem Haus. Und das, was noch steht, ist einsturzgefährdet, zu unsicher, um darin zu leben. "Gib mir mein Haus zurück, gib mir mein Haus zurück", das sage seine Frau jede Nacht, sie weine viel und spreche wenig im Moment. Er müsse stark sein jetzt, für sie. "Sonst bricht sie mir kaputt." Seine Lippe bebt, die Baggerschaufel reißt ein großes Stück aus dem Dachstuhl, "das war alles mit Liebe gemacht", sagt er, er sei Steinmetz, ein einfacher Mann, habe vieles selbst gebaut am Haus. 21 Jahre Arbeit stecken darin, vor vier Jahren zahlte er die letzte Rate.

So wie Stanislaw Szpala aus dem Dorf Schuld verlieren gerade zahlreiche Menschen im Ahrtal ihr Zuhause. Sie verlieren es nicht unmittelbar an die Flut; viele Häuser stehen noch, sind aber einsturzgefährdet. Um die Risiken zu erkennen, hat die Kreisverwaltung Ahrweiler ein Team aus Statikern und Architekten zusammengestellt, auch Torsten Raths ist dabei. Dass der Bagger Stanislaw Szpalas Haus an diesem Donnerstagnachmittag einreißt, hat er entschieden, drei Tage zuvor. Raths nennt es: "den Abbruch anordnen" oder "das Gebäude entnehmen".

Raths entscheidet über Existenzen

Torsten Raths ist Architekt, eigentlich. Für das Bauamt in Ahrweiler prüft er Bauanträge. Sein Job ist es, Dinge aufzubauen. Nicht ab. Doch gerade tut er genau das: entscheiden, ob ein Haus stehen bleiben darf oder nicht. Wenn Raths entscheidet, dass "Gefahr in Verzug" ist und das Gebäude nicht weitläufig abgesperrt werden kann, ordnet er einen Abbruch an. Dann kommen die Bagger manchmal noch am selben Tag. Oft muss Raths Menschen, die dachten, sie könnten ihr Zuhause behalten, sagen: Es muss abgerissen werden, sofort. Viele haben dann nicht einmal mehr die Möglichkeit, noch Möbel oder andere Dinge zu retten.

Stanislaw Szpala und seine Tochter nehmen Abschied vom Haus der Familie in Schuld
Stanislaw Szpala und seine Tochter nehmen Abschied vom Haus der Familie in Schuld
© Murat Türemis

Torsten Raths, 46, trägt einen Helm, Sicherheitsschuhe in Größe 45 und hat lange Arbeitstage. 12, 14 Stunden, sein Chef brauche ihn draußen. Raths sagt, er habe kein Zeitgefühl mehr und auch keinen Hunger. Und wer ihn einige Tage begleitet, der begleitet auch einen Seelsorger. Raths selbst sagt über sich: "Man sieht es mir wahrscheinlich nicht an, aber ich habe einen sehr weichen Kern."

Die Geschichten hinter den Häusern

Die Termine an sich, das Technische, das hake er in 15 bis 20 Minuten ab. Aber das andere, das dauere. "Die Leute sind traumatisiert. Sie haben Material und Menschen verloren." Raths hört sich die Geschichten hinter den Häusern an. Mit einer Frau stand er vor dem Haus, in dem ihre Mutter ertrunken war, und beschloss den Abriss. Diese Geschichten, sagt er, die nehme er mit ins Bett. Man müsse kalt sein, wenn man das nicht an sich heranließe. "Im Moment bin ich ein Stück weit auch Psychologe", sagt er.

Wenn man die Flut mit einem Geruch beschreiben müsste, dann wäre es der von fauligem Schlamm. Es ist der Geruch, der das Ahrtal durchzieht, er liegt auf den staubigen Straßen und wird stärker, wenn man in die Mitte Juli überfluteten Gebäude tritt, durch Flure und in Schlafzimmer geht, die keine mehr sind. Auch in dem Haus, in das Raths gerade tritt, riecht es so; es steht in Schuld und war bisher als standsicher eingestuft. Raths soll überprüfen, ob das noch immer so ist.

Die Besitzer des Hauses sind nicht da, um ihm zu öffnen. Aber das müssen sie auch nicht. Wer vor dem Haus steht, steht eigentlich schon drin, die einst bodentiefen Fenster der Wohnküche sind eingebrochen, auf dem Boden Schlamm und Schutt, eine Dose Brühe, ein paar Schuhe.

Fast bis zur Decke ist die Tapete braun gefärbt, bis dahin stand das Wasser, ungefähr 2,40 Meter hoch, schätzt Raths. Er und die Prüfstatiker klopfen an die Wände, ziehen feuchte Tapeten ab, begutachten das Material darunter. Diagnose: einsturzgefährdet. Sie müssen, das betont Raths immer wieder, das "geringfügigste" Mittel anwenden. Denn alles, was er anordnet, zahlt der Kreis. Ist der Abstand zum Nachbarn bei einem einsturzgefährdeten Haus groß genug, reicht zur unmittelbaren Gefahrenabwehr womöglich eine Absperrung. So ist es bei diesem Haus.

Das Wasser hat Schutt und Zerstörung hinterlassen

Durch das offene Wohnküchenfenster dröhnt Krachen und Scheppern vom anderen Ende des Dorfes. Dort bricht ein Bagger große Stücke Mauerwerk aus einem dreigeschossigen Haus. Die Bäckerei der Familie Schlösser, sagt Raths. Das Haus von 1909, im Krieg zerstört, wieder aufgebaut, in vierter Generation lebte die Familie dort, buk in der Backstube Brot und Kuchen, verkaufte sie nebenan.

Vor dem Haus sitzen Katharina und Kunibert Schlösser auf zwei Stühlen und schauen ihrem Erbe dabei zu, wie es immer weniger wird. 75 und 85 Jahre sind sie alt, mittlerweile führt ihre Tochter die Bäckerei, sie selbst leben die Straße runter.

Als das Wasser kam, wichen sie aus bis in den Speicher, von dort blickten sie durch ein kleines Fenster hinaus. Sie konnten sehen, wie das Wasser stieg, aber das Fenster war zu klein, um hinauszuklettern. "Wir haben uns an den Händen gepackt und dachten, das ist es gewesen", sagt Katharina Schlösser. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. "Es war schlimm. Die Nacht war lang."

Viele Tränen, viel Reden

Auf der anderen Straßenseite steht Cornelia Schlösser, die Tochter. Weiße Staubkrümel hängen in ihrem Haar, sie hat die Arme vor der Brust verschränkt und blickt zum Haus. Wie ein ramponiertes Puppenhaus sieht es aus, die Zimmer liegen frei, eines noch vollständig eingerichtet: Aktenordner, Schreibtisch, an der Wand eine Garderobe. "Man glaubt nicht, dass man da drin gewohnt hat", sagt Schlösser.

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Vor 52 Jahren wurde sie geboren in dem Haus, seitdem lebt und arbeitet sie dort. Sie stand in der Backstube, als das Wasser stieg, nahm Bleche aus dem Ofen und stemmte sie in die Fenster, aber wenn sie gewusst hätte, wie schlimm es wird, dann hätte sie auch die Maschinen und Töpfe und Geräte aus der Backstube die Treppe hochgetragen, sagt sie. Schlösser selbst sprang in der Nacht aus ihrem Fenster in die Radladerschaufel des Nachbarn. So rettete er sie aus dem Haus.

Torsten Raths fährt mit seinem Geländewagen die Straße hoch. Das Haus mit der Bäckerei steht heute nicht auf seiner Terminliste. Aber er steigt trotzdem aus, umarmt Cornelia Schlösser, fragt, wie es ihr geht, sagt Dinge wie "Wenn ihr etwas braucht, ruft mich an", oder "Die Bescheinigung für die Versicherung bekommt ihr bald". Von Raths geht eine summende Energie aus, wie von den Generatoren, die das Tal mit Strom versorgen.

Torsten Raths tröstet Bäckermeisterin Cornelia Schlösser
Torsten Raths tröstet Bäckermeisterin Cornelia Schlösser. In diesen Tagen ist der Architekt auch Psychologe
© Murat Türemis

Lange war unklar, ob das Haus der Schlössers stehen bleiben kann. Denn im Kreis prüft nicht nur Raths mit seiner Truppe die Statik der Gebäude. Auch das THW macht das und Gutachter von Versicherungen. Die wollen sich selbst davon überzeugen, ob ein Haus abgerissen werden muss. Versicherungen haben andere Maßstäbe, sagt Raths. Er mache Gefahrenabwehr, die Versicherungen prüften, ob ein Abbruch wirtschaftlich sei.

Abschied nehmen

Raths entschied schließlich: Abbruch. Die Versicherung stimmte zu. Die Entscheidung sei schwer gewesen, viele Tränen, viel Reden, sagt Schlösser. Doch wenn Cornelia Schlösser jetzt sehe, wie das Mauerwerk vor ihren Augen zerbröckelt, dann wisse sie, auf welcher Zeitbombe sie gesessen hätte. Schlösser will die Bäckerei wieder aufbauen, weitermachen, es komme so viel von den Leuten im Ort. "Sie vermissen uns, das Brot, das Gebäck", sagt sie.

Stanislaw Szpala kommt dazu mit seiner Tochter Jessica, seine Schultern hängen. Gestern seien sie noch mal alle gemeinsam am Haus gewesen, erzählt seine Tochter. Sie haben gelacht und gegessen und getrunken und geweint.

Aufbauen? Am selben Ort?

Aber es geht nicht nur um Gefühle. Szpala klärt gerade mit seiner Versicherung, wie der Wiederaufbau finanziert wird. Er hat eine Versicherung, das sei gut, aber sie zahle ihm nur 100 Prozent, wenn er das Haus an derselben Stelle wieder aufbaut. "Wie könnte ich dort wieder bauen?", fragt er Raths, er und Szpala stehen vor der Motorhaube des Geländewagens und reden leise. "Da könnten wir nachts kein Auge zutun. Meine Frau hat Angst, dort zu leben."

Die Betroffenen in den Hochwassergebieten brauchen Hilfe. Wir leiten Ihre Spende ohne Abzug an vor Ort tätige Organisationen weiter. Hier können Sie spenden.
Die Betroffenen in den Hochwassergebieten brauchen Hilfe. Wir leiten Ihre Spende ohne Abzug an vor Ort tätige Organisationen weiter. Hier können Sie spenden.

Die Menschen fragen sich, wie es weitergeht. Sie fragen Torsten Raths: Kann ich hier wieder bauen, wann kann ich bauen, an welcher Stelle sonst? Noch gelten die rechtlichen Bestimmungen von vor der Flut: 40 Meter Abstand zum Fluss, wo früher Häuser stehen durften, dürften sie es auch jetzt wieder. Doch diese Regelungen passen oft nicht mehr: Szpalas Grundstück liegt nicht weit von der Ahr. Würde das Wasser noch einmal kommen, wäre das Haus ihm schutzlos ausgeliefert.

"Ich bleibe da dran für dich", sagt Raths und umarmt Szpala. "Das wird." Zum ersten Mal liegt Hoffnung in Szpalas Blick. "Torsten, ich danke dir, du hast mich wieder aufgebaut", sagt er.

Torsten Raths sagt, dass er wachse an seinem Job. Er ist ein Anpacker, ein Entscheider. Die Arbeit sei heftig, "aber ich komme gestärkt da raus".

"Es wird nie wieder wie zuvor"

Stanislaw Szpala weiß nicht, ob seine Kraft reichen wird für das, was vor ihm liegt. Es ist das zweite Mal, dass er sein Zuhause verliert. Das erste Mal war 1989. Damals kam er mit seiner Frau und den zwei älteren Töchtern aus Schlesien nach Deutschland, sie ließen ihr Haus zurück und eine Wohnung, konnten nur drei Taschen mitnehmen. Beim zweiten Mal, in der Nacht der Flut, musste Szpala zusehen, wie das Wasser ihm das Haus nahm. Als er und seine Frau abends ins Dorf fahren wollten, riss der Fluss schon von drei Seiten am Haus. Die halbe Nacht stand Szpala da und schaute zu, die Ahr warf Autos und Bäume gegen die Mauern, nahm mit sich, was sie im Erdgeschoss aufbewahrten: Fotoalben, Schmuck, Papiere.

Szpala zieht an seiner Zigarette. "Es wird nie wieder wie zuvor", sagt er. Er sei nicht mehr der Jüngste. "Ich weiß nicht, ob die Kraft reichen wird." Zwei Wochen vor der Flut habe er noch einen Whirlpool in seinen Garten gebaut. Zum Glück, sagt er, habe er zumindest einmal darin gesessen. Seine Tochter tritt zu ihm. "Wir fahren langsam nach Hause", sagt sie, stockt, begreift. Blickt in Richtung der Ruine.

Wo immer zu Hause gerade ist.

Erschienen in stern 35/2021

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