Katastrophe im Ahrtal Nach dem Untersuchungsausschuss – was wir aus der verheerenden Flut im Ahrtal lernen können

Ahrtal zwei Jahre nach der Flut
Zwei Jahre nach der Flut ist dem Ahrtal die Zerstörung noch deutlich anzusehen. Auch die Lehren, die aus der Katastrophe gezogen wurden, lassen zu wünschen übrig
© Thomas Frey/ / Picture Alliance
Knapp zwei Jahre nach dem verheerenden Hochwasser an der Ahr gingen Ende April die Vernehmungen vor dem Untersuchungsausschuss zu Ende. Die Journalistin und stern-Mitarbeiterin Gisela Kirschstein war bei fast allen 42 Sitzungen dabei. Die Lehren daraus hat sie in dem Buch "Flutkatastrophe Ahrtal, Chronik eines Versagens" nachgezeichnet.

135 Menschen starben durch die Wassermassen, eine Person gilt weiterhin als vermisst. 227 Zeugen wurden angehört, um diese Katastrophe aufzuarbeiten. Darunter Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD). Eine Bundesministerin und ein Landesinnenminister verloren im Zuge der Aufarbeitung ihr Amt. Der Ausschuss offenbarte, wie unkoordiniert die Regierung auf das sich anbahnende Unglück im Juli 2021 reagierte – und wie zuweilen dilettantisch der Wiederaufbau gemanagt wurde. Die Autorin Gisela Kirschstein hat fast alle Sitzungen mitverfolgt.

Frau Kirschstein, welchen Eindruck von Politik hinterlassen die über 280 Sitzungsstunden?
So ein Sitzungsmarathon hinterlässt ein zwiespältiges Gefühl. Einerseits hat der Untersuchungsausschuss Unglaubliches geleistet und Versäumnisse der Politik aufgedeckt, wie ich es in 25 Jahren politischem Journalismus noch nicht erlebt habe. Paradebeispiel hierfür waren die Videos aus der Flutnacht, gedreht von einem Hubschrauber der Polizei Rheinland-Pfalz, der ab 22:15 Uhr das gesamte Ahrtal abgeflogen und die dort unten ablaufende Katastrophe bereits zu diesem Zeitpunkt in aller Deutlichkeit dokumentiert hatte. Ohne den Untersuchungsausschuss wären diese Videos, die ein äußerst schlechtes Licht auf das Krisenmanagement des Landes werfen, überhaupt nicht an die Öffentlichkeit gelangt.

Insofern hat die Kontrolle durch das Parlament hier gut funktioniert. Dass ein Untersuchungsausschuss notwendig war, um viele Dinge ans Licht zu bringen, hinterlässt einen auf der anderen Seite natürlich mit einem flauen Gefühl zurück. Ich habe Dutzende von Sitzungsstunden erlebt, in denen sich Vertreter der Regierung sowie deren Mitarbeiter, aber auch die Vertreter der Regierungsfraktionen im U-Ausschuss, regelrecht wegduckten. In denen sie versuchten, nachträglich Schadensbegrenzung zu betreiben – für sich selbst.

So richtig verantwortlich fühlte sich also niemand?
Das Wegschieben von Verantwortung schien das Hauptanliegen von Innenministerium, Umweltministerium und allen untergeordneten Behörden zu sein. Denn in der Flutnacht war die Landesregierung in Mainz ja nicht in Erscheinung getreten. Ein Staatsekretär guckte Fernsehen und genehmigte sich ein Feierabend-Bierchen, der Innenminister begnügte sich mit einer Stippvisite im Landkreis und schaffte es trockenen Fußes nach Hause.

Und die Umweltministerin war über Stunden nicht erreichbar, die Ministerpräsidentin angeblich nicht informiert, während im Norden von Rheinland-Pfalz die Menschen auf Bäumen und Dächern ausharrten und ein ganzes Tal in den Wassermassen versank. So die Handlungsunfähigkeit des Landes und seines Leitungspersonals vor Augen geführt zu bekommen, war schwer zu ertragen.

SPD-Ministerpräsidentin Malu Dreyer musste zwei Mal vor den Ausschuss. Wie hat sie sich verkauft?
Der Ausschuss hat offenbart, dass die Landesregierung die Situation nicht im Griff hatte. Malu Dreyer wirkte angesichts der Katastrophe glaubhaft erschüttert. Aber ihr Versuch, alle Verantwortung Beiseite zu schieben, hat ihrem Nimbus als empathische und umsorgende Landesmutter stark geschadet. Aussagen wie: "Ich kann mich doch nicht für eine Naturkatastrophe entschuldigen" wirkten deplatziert und dreist.

Mit ihrer Weigerung, sich für das was schiefgelaufen ist, bei den Menschen im Ahrtal zu entschuldigen, steht sie einem Neuanfang im Ahrtal im Wege. Außerdem sind immer noch Abläufe nebulös, die sie leicht hätte aufklären können. Bis heute blieb unbeantwortet, ob Dreyer eine alarmierende SMS ihres Innenministers und Parteifreunds Roger Lewentz nachts um 0.58 Uhr ("Liebe Malu, die Lage eskaliert") noch gesehen hat, bevor sie zu Bett ging. Wusste die Ministerpräsidentin tatsächlich nicht, was draußen vor sich ging? Die Frage steht weiter im Raum.

Wurden die Defizite des Warnsystems nach der Ahrtalflut ausgebessert? "Mitnichten"

Die Menschen an der Ahr waren vielerorts nicht vor den auflaufenden Wassermassen gewarnt worden. Was lief schief? 
Die Warnungen scheiterten in der Flutnacht gleich auf mehreren Ebenen: Warnapps schlugen – teils aus technischen Gründen – nicht an. Es fehlte an Sirenen. Zuständige lösten den Katastrophenalarm nicht rechtzeitig aus. Und kein Verantwortlicher informierte die Medien – etwa den Rundfunk –, um die Menschen an der Ahr zu alarmieren. Kern des Problems ist, dass das Warnsystem auf eine Kette von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten setzt, dabei aber nicht einkalkuliert, dass eine dieser Stufen auch einmal ausfallen könnte. In der Praxis hing alles am Ende an einem Landrat, der über Stunden abgetaucht war.

Gregor Peter Schmitz mit den Buchstaben GPS

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Eine Meldung des Katastrophenalarms war zwar vorbereitet, sie blieb aber zunächst liegen, weil es niemand gab, der das System bedienen konnte. In Deutschland werden Warnungen der höchsten Stufe noch immer per Fax verschickt – und wenn der Zuständige gerade nicht greifbar ist, dann geht das Fax halt nicht raus. Ein fatales System. Da der zuständige Kreis nicht rechtzeitig die höchste Stufe des Katastrophenalarms auslöste und keine Evakuierungsanordnung herausgab, fühlte sich auch sonst im Land niemand in der Lage, dies zu tun. So etwas darf nicht sein.

Funktioniert das Warnsystem heute besser als vor zwei Jahren?
Mitnichten. Zwar wurden inzwischen wieder Sirenen im Ahrtal installiert, aber weder an der digitalen Warnstruktur über Apps noch am Hochwasserwarnsystem oder an der Zuständigkeit für das Auslösen des Alarms hat sich etwas geändert. Die Warnung über Mobilfunknetze funktioniert bis heute ebenfalls nicht reibungslos, es werden noch immer nicht alle Handys erreicht. Käme morgen wieder eine solche Flut auf uns zu, wir wären wohl kaum besser aufgestellt.

Der zuständige Landrat Jürgen Pföhler (CDU) war in der Flutnacht über Stunden nicht erreichbar. Weiß man mittlerweile, wo er sich befand? 
Das ließ sich auch vor dem Untersuchungsausschuss nicht lückenlos aufklären. Grund dafür ist vor allem, dass Pföhler alle Aussagen zur Flutnacht verweigerte. Das ist sein Recht, denn er muss sich nicht selbst belasten. Gegen Pföhler ermittelt die Staatsanwaltschaft Koblenz wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung im Amt durch Unterlassen. So bleibt hier eine Lücke, die wahrscheinlich erst ein Prozess schließen könnte.

Abseits vom Verhalten Pföhlers ist aber fraglich, ob das Ausmaß der Katastrophe nicht ohnehin seine Möglichkeiten als Landrat übertraf. Der Untersuchungsausschuss gab hierzu zwei Gutachten in Auftrag. Beide Experten vertreten die Ansicht, angesichts der Tragweite hätte das Land das Krisenmanagement übernehmen müssen. Zuständig wäre demnach die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion ADD gewesen, die dem Innenministerium unterstellt ist. Doch die Regierungsbehörde, das ist die bittere Erkenntnis, war hierfür ebenfalls nicht aufgestellt und nicht vorbereitet.

Wer konnte vor dem Untersuchungsausschuss beeindrucken? 
Es gab diese Momente, in denen man die berühmte Stecknadel hätte fallen hören. Das war, als die Helfer der Flutnacht, meist Feuerwehrleute und Piloten von Rettungshubschraubern, zu Wort kamen. Ihre Erzählungen von weggerissenen Häusern und verzweifelten Menschen, die mit Taschenlampen versuchten, Hilfe herbeizuwinken, ließen wohl niemanden unberührt. Oder das Eingeständnis der totalen Überforderung der Rettungszentrale in Koblenz, bei der in dieser Nacht Tausende Anrufe eingingen und die Mitarbeiter auflegen mussten, weil sie schlicht keine Hilfe leisten konnten – das war einfach schlimm.

Besonders hat mich ein Pilot eines Rettungshubschraubers vom Nürburgring beeindruckt. Der Helikopter war für Bergungen aus der Luft eigentlich nicht ausgestattet. Und die Sicht war schlecht, viele Hubschrauber sind angesichts des schlimmen Wetters gar nicht erst gestartet. Dennoch ist dieses Team losgeflogen und hat die Leute auf einem Campingplatz mit einer langen Leine aus dem Wasser gezogen. Auf diesem Platz kamen an jenem Abend sieben Menschen ums Leben.

Ohne den mutigen Einsatz dieser Crew und anderer Helfer hätte es noch mehr Opfer gegeben: Sie sind für mich die wahren Helden der Flutnacht. Ich bin der Meinung: Hätte die Politik angemessen reagiert, wäre diese Katastrophe nicht so schlimm ausgegangen. Viele Menschen am unteren Ahrlauf, wo das Wasser erst mit mehrstündiger Verzögerung auflief, hätten womöglich gerettet werden können.

red.