An einem Mittwoch im März fährt um 22.02 Uhr ein roter Ford Transit, Kennzeichen AW A 2.900, über die polnisch-deutsche Grenze. Autobahn 4, 118 km/h. Draußen spannt sich eine Nacht ohne Mond wie ein Bettlaken über Sachsen. Erste Orte ziehen vorbei, der Scheinwerfer leuchtet auf braune Schilder entlang der Leitplanke, die erzählen, was es hier für Touristen alles zu sehen gäbe. Lausitzer Karpfenteichregion, Unesco-Biosphärenreservat Heide- und Teichlandschaft, Oberlausitz-Niederschlesien. Drinnen, im Transporter, hockt ein Mann auf dem Mittelplatz, schwarze Wollmütze, schwarze Winterjacke, schwarze Jogginghose. Er ist alles, nur kein Tourist, starrt stumm aus dem Fenster, hinein in die ersten Kilometer seines neuen Lebens.
Neben ihm seine Frau, auf dem Schoß die Kinder, neun, vier und zwei Jahre alt. Zwei Töchter und ein Sohn. Der Jüngste, braune Haare, braune Augen, weint, eigentlich schon, seit sich der Wagen vor acht Stunden in Bewegung gesetzt hat. Raus aus Kattowitz, den ganzen Nachmittag über zerschlaglöcherte Straßen, durch das Hinterland, vorbei an zweistöckigen Häusern mit müden Fassaden, dann wieder durch blätterloses Irgendwo.
Wenn der Junge nicht geweint hat, dann hat er geschlafen. Er bekommt Beruhigungsmedikamente, sagt der Vater, er ist immer noch verschreckt, von den vielen Menschen am Bahnhof, von den Soldaten und ihren Gewehren, von den Sirenen, von den Explosionen, die das Haus der Familie zittern ließen, als fürchte sich selbst der Beton. Ich, sagt der Vater, habe seit drei Tagen eigentlich gar nicht mehr geschlafen.
Fünf Tage nach dem Angriff auf die Ukraine fuhren sie los in Richtung des Krieges
So lange sind sie weg aus der Stadt, in der sie lebten, in der sie ein Leben hatten, weg aus Dnipro, gelegen am gleichnamigen Fluss, 394 Kilometer südöstlich von Kiew, eine Metropole, knapp eine Million Einwohner, die wie ein Adapter Westen und Osten der Ukraine verbindet. Seit den frühen Morgenstunden des 24. Februar, seit die ersten Raketen einschlugen, Kriegsgebiet.
Schräg vor dem Vater und dem Sohn, am Lenkrad, sitzt ein anderer Mann, der fast noch Junge ist, schwarzer Zopf, rasierte Schläfen, ein bisschen Bart drückt sich aus seinen Wangen. Er war noch nie in der Ukraine. Und doch weiß er, wie es ist, seine Heimat zurückzulassen, weil sie kein Zuhause mehr sein kann.

Vor der Abfahrt, als die sieben Koffer, vollgestopft mit Kleidung, und der Käfig mit der grauen Katze verstaut waren, hat Rebar Ahmad innegehalten. Ahmad, geboren in Aleppo, 23 Jahre alt, seit fünf Jahren in Deutschland, hat auf die Ladefläche geschaut und noch ein Wort gesagt, bevor er die Hecktüren schloss.
"Scheißwelt."
Und vielleicht reicht das auch schon als Erklärung. Vielleicht ist dieses eine Wort genug Antwort auf die Frage, warum Ahmad sich als Fahrer für diese Tour gemeldet hat. Warum er, ein syrischer Geflüchteter, gestern, fünf Tage nachdem der russische Angriff auf die Ukraine begonnen hatte, zwei Tage nachdem Wladimir Putin seine Atomstreitkräfte in Bereitschaft versetzen ließ, einen Tag nachdem in Charkiw Streubomben in Wohngebiete fielen, nach Osten aufgebrochen ist, zusammen mit zwei anderen Syrern. Ohne wirklichen Plan, ohne einen Schlafplatz, ohne feste Route. Aber mit einem Ziel: Menschen retten.
Schon nach der Flut halfen sie tagelang
Der Morgen davor, Sinzig, Landkreis Ahrweiler. Der rote Transit parkt auf Kleinstadt-Kopfsteinpflaster, Rentner fußgängern sich zum Bäcker oder zur Sparkasse, an ihnen vorbei schleppen drei Männer und eine Frau Kartons voll mit Wolldecken, Winterjacken, Frotteehandtüchern, Isomatten, Haferbrei, Reiswaffeln, Babynahrung, Alufolie, Jodsalz, Kakao, Tampons, Windeln, Coronatests und allem, was sie in der kurzen Zeit sonst noch einsammeln konnten. Sie tragen neongelbe Warnwesten, hintendrauf zwei Hände, die ineinandergreifen und ein Herz bilden, darunter der Schriftzug "Syrische Freiwillige in Deutschland".
Von ebenjenen sind neben Ahmad gekommen: Mahmoud Bayan und Faris Allahham, beide seit 2015 in Deutschland, und Melanie Brücken, immer schon in Deutschland, Eventmanagerin von Beruf. Ihr gehört das Co-Working-Büro in Sinzig, das nach einer anderen Katastrophe, der Flut im Ahrtal, zu einer der Hauptanlaufstellen für Freiwillige und Betroffene wurde. Hier gab es Essen und Seelsorge, einen Internetzugang und eine Umarmung.
Als da plötzlich diese Syrer waren, die helfen wollten, weil Deutschland ja auch ihnen geholfen hatte, die von 9 bis 23 Uhr die Matsche wegschippten, später kaputte Möbel aus Häusern schleppten, ohne dass sie jemand darum bitten musste, da brachte jemand diese Syrer schließlich zu Melanie Brücken. "Man gab sie bei mir ab", sagt sie. Und weil Not oft Menschen enger zusammenklebt, als es der Alltag könnte, sind die Syrer und Melanie Brücken jetzt Freunde.

Als Nun-Freunde und Immer-noch-Helfer haben sie beschlossen, dass ihre Hilfe nicht im Ahrtal enden soll. Sie haben beschlossen, Spenden nach Polen zu fahren und ukrainische Geflüchtete von dort nach Deutschland. Den roten Ford Transit, den sie dafür an diesem Morgen beladen, haben sie durch Mittel der Stiftung stern finanziert.
Sie haben einen Standort über Whatsapp erhalten. Hierher kommen. Dann alles weitere. Geschickt hat ihn ein Kontaktmann in Polen, der, so erfährt man, zusammen mit Allahham der Gründer der "Syrischen Freiwilligen in Deutschland" ist. Allahham selbst wiederum fährt gar nicht mit, bleibt in Sinzig, stattdessen wird gleich noch ein weiterer Syrer abgeholt werden, und das ist jetzt natürlich alles ein bisschen chaotisch. So bleibt es, das wird man später merken. Und lernen, was sie an der Ahr schon nach dem Hochwasser gelernt haben: In Krisenzeiten ist ein bisschen chaotisch völlig normal.
"Wir haben das Gleiche erlebt. Deswegen müssen wir helfen"
20 Minuten später also steigt Mohammad Karsouh in den Bus, 21 Jahre alt, geboren und aufgewachsen im syrischen Daraa, seit sieben Jahren in Deutschland, die Haare kurz und lockig. Er setzt sich zu Melanie Brücken und Mahmoud Bayan, Ahmad steht noch draußen, zieht ein letztes Mal an der Zigarette, sagt einen Satz, den er noch öfter sagen wird, wenn es ihm nicht schnell genug geht: "Los geht’s, jalla." Was arabisch ist und so viel bedeutet wie: Beeilung! Also Beeilung. Motor an.
Los geht’s. Jalla.
Warum retten Menschen andere? In den vergangenen Tagen war oft von einer Doppelmoral des Westens zu lesen. Davon, dass Deutschland wie selbstverständlich seine Grenzen für ukrainische Geflüchtete offen lässt, ihnen kostenlose Bahntickets gibt, während Afrikaner auf dem Mittelmeer ertrinken. Vor wenigen Monaten noch froren an der belarussischen Grenze Menschen aus arabischen Staaten tagelang im Schnee, tranken aus Pfützen, das polnische Militär schob sie ab, bevor sie einen Asylantrag stellen konnten. An der ukrainischen Grenze gibt man den Menschen Wasser, in Deutschland müssen sie keinen Asylantrag stellen.
Der Vorwurf, den manche daraus ableiten, ist offensichtlich: Deutschland und die Europäische Union helfen den Ukrainern nur, weil sie weiß sind und Christen, weil sie die gleichen blauen Augen haben.
Und es stimmt ja, als sie vor dem Krieg in Syrien flohen, hat niemand Rebar Ahmad, Mohammad Karsouh und Mahmoud Bayan mit einem Bus aus der Türkei abgeholt, auch nicht aus Griechenland, Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien oder Österreich.
Trotzdem oder gerade deshalb, dachte Ahmad, als er die Bilder im Fernsehen sah, von weinenden Kindern, erschöpften Müttern und toten Vätern, sofort: Ich muss helfen, ich muss dahin. So erzählt er es. Ahmads Mutter habe ihn gefragt: "Du bist doch aus dem Krieg raus, warum willst du noch mal den Krieg sehen?" "Sie hat recht, ich habe genug Krieg gesehen", sagt Ahmad. "Aber keiner außer uns versteht diese Leute, versteht, was das für ein Gefühl ist. Wir haben das Gleiche erlebt, nur an einem anderen Ort. Deswegen müssen wir helfen."
"Kommt, Deutschland!"
Rheinland-Pfalz wird zu Hessen wird zu Thüringen, Morgen wird zu Nachmittag wird zu Abend. Bayan, 58, fährt und schweigt, er war Busfahrer in Syrien. Ahmad und Karsouh sitzen Arm in Arm, zeigen sich Tiktok-Videos, hören arabischen Rap, kaufen sich an Raststätten McDonald’s-Burger.
Um 19.38 Uhr: Polen. Keine Grenzkontrolle, nur eine Begrüßungs-SMS vom Telefonanbieter. Der Kontaktmann meldet sich nicht. "Wenn wir ihn nicht erreichen", sagt Ahmad, "dann fahren wir einfach zur Grenze, machen die Tür auf und sagen: 'Kommt, Deutschland.'"

Um 23.27 Uhr: Kattowitz. Hierher sollten sie kommen. Am Ende einer Einbahnstraße steht ein Mensch in Signalfarben, auch er trägt die gelbe Neonweste. Anas Alakkad, der Kontaktmann, einer der Köpfe der syrischen Hilfsgruppe. Er sagt, er sei in den vergangenen Tagen schon an der Grenze zur Ukraine gewesen, habe dort zwei Familien kennengelernt. Sie seien mittlerweile hier, in der Stadt, wollten weiter nach Deutschland, schon morgen. Aber erst müssten die Spenden abgegeben werden. Wo? Mal schauen.
"Jetzt ist es dafür eh zu spät", sagt Alakkad. "Ich bringe euch in ein Hostel."
Ein Zimmer ohne Bad für alle, die Betten hart und schmal, die Nacht kurz. Der Morgen früh und hell.
Drei Männer, zwei Frauen, zwei Mädchen, ein Junge, eine Katze, sieben Koffer
Die ersten zwei Spendenlager haben keinen Platz mehr. Schon genug da, danke. Weiter in Richtung Provinz, Świętochłowice. Alakkad hat da so eine Adresse bekommen. Ein Hinterhof, Lagerhallen mit verrosteten Stahltüren, eine Frau in Weste davor, daneben ihr 16-jähriger Sohn, der auf Englisch übersetzt. Sie nehmen alles gern, heute oder morgen würden sie die Sachen selbst weiter in die Ukraine fahren. Nummern werden ausgetauscht. Die Frau fragt: Könnt ihr auch Nachtsichtgeräte besorgen?
Ahmad, Karsouh und Bayan laden aus, es dauert vielleicht fünf Minuten, dann ist der Transit leer. Händeschütteln. Weiter. Oder auch: zurück. Nach Kattowitz. Und dann stehen dort, auf einem Platz mitten in der Innenstadt, drei Männer, zwei Frauen, zwei Mädchen, ein Junge, eine Katze, sieben Koffer. As-Salamu aleikum. Wa aleikum salam.

Die Männer sind ebenfalls Syrer, allerdings haben sie alle seit über zehn Jahren in der Ukraine gelebt, dort Medizin studiert, sie sind Ärzte, ihre Frauen Ukrainerinnen. Vor drei Tagen sind sie weg, weg aus ihrer Heimatstadt Dnipro, sie hatten erst überlegt, Molotowcocktails zu bauen, entschieden sich dann doch zu fliehen. Der Kinder wegen.
Der Junge weint.
"Scheißwelt".
Kommt, Deutschland.
Jalla.
"Wir sind so glücklich, hier, in Sicherheit, zu sein"
Sie sollen sie nach Heilbronn bringen, sagt Alakkad. Da wartet der nächste Kontaktmann. Am frühen Nachmittag fahren sie los, über schlechte Straßen, durchs Hinterland. Die Familien schauen in ihre Handys, auf deren Displays immer noch Panzer rollen, Menschen von Soldaten erschossen werden. Eine der Ukrainerinnen wird stundenlang kein Wort sagen und dann auf einmal, plötzlich, schreien: "Russian Army is terrorists", die russische Armee, das sind Terroristen.

Am nächsten Morgen erst, um 4.40 Uhr, nach einer Nacht auf der Autobahn, kommen sie an in Heilbronn. Der zweite Kontaktmann lotst sie weiter, zu zwei Zielen im Nirgendwo und schließlich in ein Erstaufnahmelager in Ellwangen, das mal eine Kaserne war. Sie zeigen ihre Pässe und warten in einem Raum mit Linoleumboden und einem Baden-Württemberg-Puzzle auf dem Tisch. Sie ziehen in ein Zimmer mit Stockbetten und Spinden aus Metall. Sie bekommen Frühstück um acht Uhr, Mittagessen um zwölf, Abendessen um fünf. Sie sagen: "Wir sind so glücklich, hier, in Sicherheit, zu sein."
Die syrischen Helfer werden nach Sinzig zurückkehren. Alakkad wird aus Polen heraus eine Art Pendelverkehr zwischen Deutschland und der Grenze aufbauen, Spenden hin, Geflüchtete zurück. Rebar Ahmad und Mohammad Karsouh werden nicht mehr mitfahren. Karsouh muss wieder zur Abendschule, Ahmad sich darum bemühen, dort einen Platz zu bekommen. Beide wollen ihren Hauptschulabschluss nachmachen. Karsouh möchte Rettungssanitäter werden. Ahmad Soldat bei der Bundeswehr.