Seit 2014 kümmert sich die ukrainische Organisation Proliska um Menschen, die im Donbass an der Grenze zwischen der Ukraine und dem Separatistengebiet lebten. Zehn Büros unterhielt Proliska dort, die Mitarbeiter lebten in Charkiw und direkt in den betroffenen und häufig auch zum Teil zerstörten Dörfern. stern-Reporterinnen kennen die Arbeit der Organisation von mehreren Reisen durch das Gebiet.
Auch jetzt im Krieg arbeitet Proliska unter großen Gefahren weiter. Die Stiftung stern unterstützt die Organisation dabei mit bislang 35.000 Euro. Wir erreichen Jewgenij Kaplin, Gründer und Leiter der Organisation in der westukrainischen Stadt Uschgorod.
Die meisten Ihrer Mitarbeiter leben direkt an der Kontaktlinie im Gebiet Luhansk und Donezk. Die Orte dort sind als mehr als zwei Wochen unter Dauerbeschuss. Wie geht es Ihren Mitarbeitern?
Wir haben leider nicht zu allen Kontakt. Wir sorgen uns besonders um eine unserer Psychologinnen, die wir seit Ende Februar vermissen. Sie lebte in Wolnowacha im Donezker Gebiet. Wir wissen nur, dass sie vor dem ständigen Artilleriefeuer im Keller Schutz gesucht hatte. Dann ging sie nicht mehr ans Telefon. Wir haben sie in allen Listen der Evakuierten gesucht und nicht gefunden.

Die Kleinstadt wurde am Mittwoch von russischen Truppen besetzt. Wie sieht sie heute nach Ihren Informationen aus?
Sie ist fast vollständig zerstört. Wie viele Menschen starben, wissen wir nicht. Unser Büro existiert nicht mehr.
Auch einige Orte im Gebiet Luhansk wurden bereits von russischen Truppen erobert. Haben Sie noch Kontakt zu Mitarbeitern dort?
Nein. Unser Büro im ehemaligen Grenzort Stanzyja Luhanska wurde angezündet, eine Mitarbeiterin konnte in die ukrainische Großstadt Dnipro fliehen. Zu den Mitarbeitern, die geblieben sind, habe ich keinen Kontakt mehr. Es gibt dort kein Internet mehr, die Verbindung über Mobiltelefone ist nicht mehr möglich.
Wie sieht es in anderen Orten an der ehemaligen Kontaktlinie aus?
In einige Büros können wir immer noch Geld überweisen. Das ist sehr wichtig. Die Mitarbeiter kaufen Lebensmittel und Medizin für Hilfsbedürftige und Familien. In Sewerotorezke konnten wir so ein Lager auffüllen. Die Lage ist überall dramatisch. Die Orte stehen unter Dauerbeschuss. Offenbar sollen sie besetzt werden. Überall gibt es Probleme mit Treibstoff und Medikamenten.

Gibt es dort noch eine Versorgung mit Strom und Wasser?
An vielen Orten nicht. Wir bekamen vergangene Woche einen Notruf aus Marinka, das ist ein kleiner Ort unweit von Donezk. Dort helfen wir seit langem einem Altenheim mit etwa 50 Bewohnern. Viele der Bewohner sind bettlägerig. Derzeit bekommt das Haus keine staatliche Unterstützung mehr. Wegen des Dauerbeschusses ist der Strom ausgefallen. Das bedeutet, dass auch die Heizung nicht mehr funktioniert. Die alten Menschen frieren.
Konnten Sie helfen?
Generatoren sind in der Gegend schwer zu bekommen, aber wir haben noch einen gefunden und gekauft. Glücklicherweise konnten wir auch tausend Liter Diesel erstehen, damit der Generator überhaupt betrieben werden kann. Auch für ein anderes Altenheim konnten wir einen Generator samt Treibstoff erwerben. Dort kamen in den vergangenen Jahren alte Menschen unter, die in diesen schweren Bedingungen auf sich gestellt waren, weil ihre Kinder aus der Gegend geflohen waren.

Was ist aus Ihrem Büro in Charkiw geworden?
Das Gebäude steht noch, die Gegend unweit des Flughafens ist allerdings stark umkämpft.
Können Ihre Mitarbeiter dort noch arbeiten?
In der Stadt sind täglich drei Fahrer mit unseren Autos unterwegs, um Menschen aus Kellern zu evakuieren und zum Bahnhof zu bringen. Es gibt in der Stadt nur wenige Taxis, die für die meisten viel zu teuer sind. Über unsere Hotline gehen viele Notrufe ein. Manche rufen mich auch persönlich an, einmal bekam ich 367 Anrufe in einer Nacht. Sie wollten alle weg. Insgesamt haben wir über 1200 Menschen in kleinen Gruppen aus beschossenen Städten aus Kellern gerettet und evakuiert. Manchmal mieten wir dazu auch Busse an. Außer Charkiw betrifft das zurzeit vor allem Sewerodonezk im Gebiet Luhansk, das stark umkämpft ist.
Charkiw ist auch Ihre Heimatstadt. Was hören Sie von dort?
Ich kenne Menschen, die seit zwei Wochen in U-Bahn-Stationen leben. Viele werden dort krank. Ich habe von einer Station gehört, in der sich offenbar das Corona-Virus ausgebreitet hat. Dutzende leiden an Fieber. Ein Freund schickte mir ein Video, auf dem er sah, wie sein eigenes Haus zerbombt wurde, während er in der U-Bahn war. Er ist nun obdachlos. Viele Stadtteile sehen furchtbar aus, vollkommen zerschossen. Etwa die Hälfte der Bewohner, also etwa 700.000 Menschen, harren bis heute in der Stadt aus.
Wie sieht die Versorgung mit Medizin aus?
In Charkiw gibt es nur noch wenige Apotheken, die noch Vorräte haben. Überall sind lange Schlangen, häufig stellen sich mehrere hundert Menschen an. Manchmal kommt es sogar zu Prügeleien, so groß ist die Not.
Haben die Menschen in der U-Bahn genug zu essen?
Einige Läden haben geöffnet, allerdings sind die Preise stark gestiegen. Ich habe neulich einen Anruf aus dem Keller eines Kulturhauses bekommen, in dem sich etwa 300 Menschen vor den Bomben schützen. Sie hatten fast nichts mehr zu essen. Unser Fahrer konnte sie mit einer halben Tonne Vorräten versorgen.
Sie sind derzeit in der Westukraine. Wie geht es den Menschen, die aus den umkämpften Regionen fliehen konnten, denn dort?
Die Flüchtlinge leben in Turnhallen und Schulen, schlafen auf dem Boden. Andere kamen bei Familien unter. Über eine Begegnung habe ich mich besonders gefreut. Am zweiten Kriegstag haben wir die Kinder aus einem Heim im Dorf Schastje im Luhansker Gebiet evakuiert. Ihr Heimatort wurde pausenlos beschossen. Die Evakuierung klappte nur, weil der Fahrer so mutig war. Die Kinder waren danach erst in Kiew. Als auch diese Stadt mehr und mehr beschossen wurde, flohen sie in den Westen nach Uschgorod. Jetzt sind alle in Sicherheit.