Vor zwei Monaten hat der Kreml eine neue heiße Kampfzone nördlich von Charkiw eröffnet. Über die Motive gab es mehrere Annahmen. Um die Millionenstadt zu erobern, war die Zahl der Truppen viel zu gering. Doch die Angriffe könnten die Bevölkerung zur Flucht animieren und die Wirtschaft der Metropole lähmen. Dann wollte der Kreml eine Sicherungszone auf der ukrainischen Seite der Grenze errichten, um den Beschuss der russischen Stadt Belgorod zu beenden.
Das eigentliche Ziel war allerdings ein anderes. Um die zweitgrößte Stadt der Ukraine zu schützen, musste Kiew die Truppen der Reserve an die Front schicken, selbst von der Front im Osten wurden Eliteeinheiten herausgelöst und in den Norden gebracht. Dort konnte Kiew die zunächst kritische Situation eingrenzen, aber nicht bereinigen. Die Russen konnten seitdem nicht weiter vordringen, die Ukrainer konnten sie aber auch nicht entscheidend zurückwerfen. In der Kleinstadt Woltschansk halten sich die Gegner in einer beidseitigen Umklammerung zwischen dem noch von Kiew gehaltenen Hochhausviertel – der Zitadelle – und dem teils von Russen eroberten Industriegebiet.
Videos dokumentieren die Bewegungen der Frontlinie
Bei den eigenen Verlusten und denen des Gegners sind die Behauptungen kaum zu überprüfen, auch wenn sie mit einigen Erfolgsaufnahmen versehen sind. Anders sieht es bei den Bewegungen am Boden aus. Die Zeiten, in denen jeder Schütze Videoclips veröffentlichen konnte, sind zwar vorbei. Aber beide Seiten dokumentieren ihre Erfolge weiterhin jeden Tag mit einer Flut von Videos. Die wiederum lokalisiert werden können. Daher weiß man teilweise bis auf den Häuserblock genau, wo Russen und wo Ukrainer sitzen, derzeit etwa bei den größeren Wohnblocks in Woltschansk. Den Vorstoß der Russen nach Niu York hinein, wollten die Ukrainer mehrere Tage verheimlichen. Absurd, weil die Russen ihre Präsenz dokumentierten. Schließlich zeigten die Ukrainer einen Clip von einem erfolgreichen Schlag mitten im Ort und gaben damit indirekt zu, dass sich die Russen dort längst festgesetzt hatten.
Die Front im Donbass rutscht
Im Norden herrscht ein mörderisches Patt, im Osten geht Putins Strategie auf. Seit der Charkiw-Front rücken die Russen dort unentwegt vor. Es kommt nicht zu tiefen, operativen Einbrüchen, die man in diesem Krieg wohl nie sehen wird. Es bleibt bei den zähen Positionskämpfen. Aber hier erreichen die Russen regelmäßig Gewinne von mehreren Kilometern Tiefe. Etwa indem sie Stollen unter der Front anlegen, vorhandene Röhren benutzen oder indem eine Attacke von Sturmtruppen mit Quads und Enduros Erfolg hat.
Kiew gelingt es nicht, auch nur einen dieser Einbrüche zurückzuwerfen. Im Gegenteil: Haben die Russen einen "Finger" im ukrainischen Gebiet erobert, dehnen sie ihn in alle Richtung aus. In der Sprache der Sowjet-Doktrin: Sie bringen "die Blume zum Blühen". Gemessen an den Bewegungsschlachten des Zweiten Weltkrieges geschieht das alles nach wie vor in Zeitlupe. An drei entscheidenden Punkten erreichten die Russen deutliche Erfolge. In der Stadt Krasnogorowka haben sie die Ukrainer nach monatelangen Kämpfen aus den Vierteln mit hoher, fester Bebauung vertrieben. Die Verteidiger werden die verbliebenen Viertel aus Datschen nicht halten können. De facto ist die Stadt gefallen, auch wenn sich die Ukrainer noch ein paar Wochen an ihre Ränder klammern können.
So schlimm steht es noch nicht um die Bergfestung Tschassiw Jar. Hier haben die Russen alle Gebiete östlich des Donbass-Kanals erobert und versuchen nun, den westlich gelegenen Teil zu flankieren, so wie sie es mit dem östlichen Teil gemacht haben. Bis jetzt konnten die Ukrainer den Vormarsch verlangsamen, aber nie wirklich stoppen. Ein ähnliches Bild bei den Siedlungen um Nie York, der russische Name lautet Nowhorodske. Hier sind die Russen bis an das Zentrum vorgestoßen und drohen, die angrenzenden ukrainischen Truppen und ihre Befestigungen abzuschneiden.
Im Donbass fehlen die Feuerwehr-Einheiten
Immer wieder zeigt sich die zahlenmäßige Unterlegenheit der Ukrainer. Um die Russen zurückzutreiben, setzen sie einen Gegenstoß mit nur einem Schützenpanzer und einer Handvoll Soldaten ein. Hier fehlen die Eliteformationen, die bei Charkiw kämpfen. Sie hatten zuvor die Rolle der Front-Feuerwehr übernommen. Dort wo es aussah, als würden die Russen einbrechen können, hat man sie entsandt und konnte in vielen Fällen die Linie halten. Ohne diese gut ausgerüsteten und motivierten Truppen gelingt das nicht.
Auch die bessere Versorgung mit Artilleriegranaten konnte die Russen nicht merklich stoppen. Die Aufnahmen von Drohneneinsätzen zeigen ein trügerisches Bild des Krieges. Diese Art von Einzelerfolgen sagen wenig bis gar nichts über den Gang der Kampfhandlungen aus. Sie zeigen allerdings, dass Kiew im Drohnenkrieg den Russen zumindest Paroli bieten kann. Man darf aber nicht vergessen, dass die Russen derartige Videos ebenfalls zeigen. Etwa wie zwei Beobachtungsdrohnen einen US-Panzer vom Typ Abrams erspähen und sich dann ein Dutzend FPV-Drohnen auf ihn stürzen. Bedeutender sind die Schläge in der Tiefe, etwa durch die Himars-Werfer der Ukraine. Aber auch hier hat Kiew, trotz der jüngsten Lieferungen aus den USA, nicht eindeutig die Oberhand. Russische Beobachtungsdrohnen können tief im ukrainischen Gebiet operieren und fordern, so sie ein lohnendes Ziel ausgemacht haben, Schläge von Iskander-Raketen an.
Wie lange können die Ukrainer durchhalten?
Kiews Hoffnungen basieren seit Beginn des Krieges auf der Annahme, dass Russland sehr viel größere Verluste erleidet als Kiew. Als Beleg dafür gelten dann die von Drohnen und Artillerie gestoppten Angriffe der Russen. Übersehen wird, dass in letzter Zeit viele Angriffe erfolgreich sind. Und dass die Positionen der ukrainischen Verteidiger von Waffen wie den russischen Gleitbomben und ihren thermobarischen Raketenwerfern mitsamt den Soldaten zermahlen werden. Derzeit ist nicht zu erkennen, dass der seit Monaten anhaltende russische Druck auf die ukrainischen Positionen nachlässt.
Die zweite Hoffnung basiert darauf, dass die Russen ab etwa Ende 2025 nicht mehr genügend gepanzerte Fahrzeuge an die Front bringen können. Der Großteil der "neuen" russischen Kampfpanzer, Schützenpanzer und Transporter besteht aus aufgearbeiteten und modernisierten Modellen, die in Lagern vor sich hin gegammelt haben. Und diese Lager leeren sich rapide. Ein Problem, das die russische Führung auch kennt. Offen bleibt, wie die Russen diesem absehbaren Mangel begegnen wollen. Also ob es ihnen gelingt, zusätzliches altes Material zu organisieren und/oder ob sie den kompletten Neubau signifikant steigern können. In allen Fällen ist die Zeit bis Ende 2025 lang. Zu lang für die Truppen im Osten, die bis dahin durchhalten müssen.
Die kurzfristige Hoffnung liegt auf den Kampfjets der Typen F-16 und Mirage. Sie sollen die russische Bombenoffensive stoppen und dann selbst Schläge im russischen Hinterland ermöglichen. Ob sie Erfolg haben, werden die nächsten Monate zeigen. Falls nicht, sieht es schlecht für die freie Ukraine aus.