Im Osten der Ukraine rutscht die Front. Kiew verliert Siedlung um Siedlung. Schuld ist der Personalmangel der Ukraine, die angegriffene Abschnitte nicht mehr verstärken kann, die allgegenwärtigen Bombenangriffe aber auch eine neue Angriffstaktik der Russen.
Das alles führt dazu, dass ganze Siedlungen auf einen Schlag verloren gehen. Die größten Krisen ergeben sich bei Stellungskämpfen im Donbass, wenn es den Russen gelingt, in den Rücken der ukrainischen Stellungen zu gelangen. Dann müssen die Verteidiger ihre Befestigungen räumen und sich zurückziehen. Und das unter den Augen der Russen. Denen gelangen spektakuläre Erfolge, als ihre Truppen alte Rohrsysteme nutzten, um an den Verteidigern vorbeizukommen. An anderen Stellen wurden Bergbaustollen unter die Erde getrieben.
Einsickern wie Guerilla
Diese Taktik sollen die Russen in der letzten Woche im kleineren Maßstab verfeinert haben. Sie setzen kleine Infiltrationsgruppen ein. Diese Spezialkräfte bestehen jeweils nur aus ein paar Mann, deren Aufgabe es ist, sich Mann für Mann unbemerkt in die von den ukrainischen Verteidigern gehaltenen Siedlungen zu schleichen. Und sich dann wie ein Guerilla im Rücken der Ukrainer festzusetzen.
Diese Frontdörfer sind nicht von einem lückenlosen Grabensystem geschützt, in denen sich Hunderte von Soldaten drängen. Die Ruinendörfer stehen weitgehend leer und werden nur von wenigen Soldaten besetzt, die sich wegen der Drohnengefahr in Kellern und Unterständen verbergen.
Die Scouts versuchen unbemerkt einzusickern. Im Ziel angelangt, verbergen sie sich, bis der Sturmangriff der Russen einsetzt. In diesem Moment erwachen die scheinbar verlassenen Dörfer zum Leben. Die Ukrainer kommen aus ihren Verstecken und nehmen den Kampf auf. Das Ganze aber nun unter den Augen der russischen Späher, die Artillerie und Drohnen dirigieren oder die Ukrainer im entscheidenden Moment von hinten angreifen.
Müssen die Ukrainer ihre Stellungen aufgeben, können sie neue Positionen erst hinter den eingesickerten Russen beziehen, dadurch verschiebt sich die Kontaktlinie deutlich und nicht nur um ein paar Häuserzeilen.
Massivster Angriff seit Wochen
Der Angriff auf Kostjantyniwka am 26.Juli zeigt eine weitere Modifikation des russischen Vorgehens. Zu Beginn der Invasion griffen die Russen mit großen Kolonnen gepanzerter Fahrzeuge an, die dann in Minenfeldern stecken blieben und von Drohnen und Artillerie zusammengeschossen wurden. Dann wurden die Angriffsgruppen immer kleiner, bestanden aus fünf oder sechs Transportern und einem Kampfpanzer zum Schutz. Ziel war es, möglichst schnell und unbemerkt in eine Siedlung einzudringen. Das gelang häufig, aber ebenso häufig erlitt die kleine Kolonne massive Verluste.
Das Städtchen Kostjantyniwka ist an sich unbedeutend, hat aber eine wichtige Position im ukrainischen Abwehrsystem. Für diesen Angriff wurden laut ukrainischen Angaben 57 gepanzerte Fahrzeuge, darunter elf Kampfpanzer und ein schwerer Unterstützungspanzer vom Typ Terminator eingesetzt, dazu ein Dutzend Motorräder und 200 Mann Sturmtruppen.
Obwohl die Ukrainer der 79. Brigade die anstürmende Gruppe erfolgreich mit Drohnen bekämpfte, setzten sich die Sturmtruppen im Ziel fest. Die Verteidiger konnten etwa ein Viertel der russischen Fahrzeuge abwehren, den Rest nicht. Die Ukrainer sprechen von 40 Mann russischen Verlusten.
Was bedeutet diese Taktik? Die Kürze der Zeit und die Größe der Gruppe hat die ukrainische Verteidigung überfordert. Sie hätte eine kleine Gruppe mit vier bis sechs Fahrzeugen aufhalten können, aber eben nicht mehr. Ist so eine Sturmgruppe erst einmal eingedrungen, kann sie meist nicht wieder aus dem Ort hinausgeworfen werden. Schon vor dem Sturm hatten die Russen das Städtchen mit Gleitbomben angegriffen. Auf Telegram schrieb die 79. vor dem Angriff, sie hätten Dutzende von Toten und Verschütteten und zahlreiche Verwundete (300er). "Eine schwere Zeit beginnt für unsere Brigade."
Ungünstiger Verlauf des Krieges
Sowohl der Einsatz von Kampfspähern wie auch der Gruppenangriff von 57 Fahrzeugen zeigen den ungünstigen Verlauf des Krieges. Einsickernde Kämpfer sind hochmotivierte, gut ausgebildete erfahrene Soldaten. Frische Rekruten könnten so eine Mission nicht durchführen. Offenbar verfügt der Kreml auch im Kriegsjahr 2024 über solche Elitekämpfer. Die Ukrainer hatten zu Beginn des Krieges auch solche Spezialkräfte, sie setzten den unerfahrenen Russen massiv zu.
Die Agentur AFP und der belgische öffentlich-rechtliche Sender RTBF trafen Vassilina Nakonetchna, Offizierin der 49. Brigade, auf einem ukrainischen Übungsplatz für Rekruten. Sie suchte nach brauchbarem Nachwuchs unter den wenig begeisterte Zwangsrekrutierten. Sie sagt dem TV-Team, dass ihre Einheit zu Beginn der russischen Invasion im Februar 2022 nur aus Freiwilligen bestanden hatte. Heute "sind sie alle tot oder verletzt".
Und auch der Sturmangriff der russischen Einheit verheißt wenig Gutes. Allen Meldungen zum Trotz, dass den Russen die Fahrzeuge ausgehen, können sie sich solche Angriffe erlauben. Erschreckend ist der Vergleich zur ukrainischen Sommeroffensive 2023. Die begann zäh und verlustreich. Mit großen Opfern kämpften sich die Ukrainer voran, immer langsamer, bis ihre Kräfte im August endgültig erlahmten. Die russischen Offensivoperationen 2024 begannen auch zäh und langsam, aber sie erlahmen bislang nicht. Der Vormarsch nimmt Fahrt auf. Ende Juli gehen den Russen die Kräfte nicht aus, es sieht eher so aus, als würden sich die Möglichkeiten der Ukraine erschöpfen.
Russen haben von allem mehr
Der ukrainische Oberkommandierende Generaloberst Oleksandr Syrskyi hat der britischen Zeitung "Guardian" ein Interview gegeben. Unter dem optimistischen Titel "Ich weiß, wir werden gewinnen – und auch wie" zeichnet er ein düsteres Bild. Er sagte, die Russen hätten von allem mehr: Panzer, Schützenpanzer, Soldaten. Ihre ursprünglich 100.000-Mann-starke Invasionstruppe sei inzwischen auf 520.000 angewachsen, so Syrskyi, und das Ziel des Kremls sei es, bis Ende 2024 ganze 690.000 Mann in der Ukraine zu haben. "Was die Ausrüstung angeht, besteht ein Verhältnis von 1:2 oder 1:3 zu ihren Gunsten." Die Zahl der russischen Kampfpanzer ist trotz der Verluste seit 2022 nicht zurückgegangen, sie habe sich "verdoppelt" – von 1700 auf 3500. Die Artilleriesysteme hätten sich verdreifacht, und die Zahl der gepanzerten Mannschaftstransporter sei von 4500 auf 8900 gestiegen.
Syrskyis Hoffnung beruht darauf, dass die russischen Verluste drei Mal höher als die der Ukraine seien. Belege dafür gibt es nicht. Die russische Übermacht soll durch bessere Qualität von Waffen und Soldaten ausgeglichen werden. Der Bericht von RTBF und AFP über die Ausbildung neuer Rekruten bietet keinen Anlass zu der Annahme. Ihm ist anzumerken, wie schockiert die Journalisten über die geringe Motivation der zwangsweise Rekrutierten sind, die teilweise auf dem Weg zur Arbeit eingefangen wurden. Zu den Rekruten des 49. Angriffsbataillons heißt es kurz: "Keiner wollte hier sein."