Seit zwei Wochen stemmt sich die Ukraine im Krieg gegen den russischen Angriff. Viele ukrainische Städte sind hart umkämpft, zivile Ziele werden zunehmend getroffen. Hat Putin sich verkalkuliert? stern-Militärexperte Gernot Kramper erklärt die Guerilla-Taktik der Ukrainer und warum es keinen Sturm auf Kiew geben wird.
Ukraine-Krieg "Wird keinen Sturm auf Kiew geben": stern-Militärexperte erklärt Russlands Taktik im Ukraine-Krieg

Mit kleinen Trupps und Drohnen: stern-Militärexperte erklärt die neue Guerilla-Taktik der Ukraine
Sehen Sie im Video: "Wird keinen Sturm auf Kiew geben" – stern-Militärexperte erklärt Russlands Taktik im Ukraine-Krieg.
Gernot Kramper: Das ist sicherlich nicht so, wie Putin sich das vorgestellt hat. Aber man sollte auch nicht so tun, als wäre Kiew jetzt auf der Siegerstraße.
Dazu setzen die Ukrainer Drohnen ein und leiten mit ihnen Artillerie-Schläge. Damit versuchen sie den russischen Vormarsch zu hemmen, indem sie die Truppen auf der Straße angreifen. Und das werden wir verstärkt sehen.
Was ist zivil? Zivil ist ein Gebäude ja nicht, weil es ein Apartmenthaus ist. Sondern zivil ist es auch nur solange, solange es nicht militärisch genutzt wird.
Hendrik Holdmann: Zwei Wochen Krieg in der Ukraine. Wie ist der Krieg gestartet? Wie hat er sich entwickelt? Und wie ist die aktuelle Lage?
Gernot Kramper: Ja, der Krieg hat sich ja zuerst sehr schnell entwickelt. Man muss sagen, in den ersten 24 Stunden haben die Russen massive Geländegewinne gemacht. Und man hat gedacht – und auch westliche Experten in ihren Kriegsspielen haben ja berechnet – als würde das immer so weitergehen. Und danach ist sehr viel weniger passiert. Es hat noch Geländegewinne gegeben, vor allen Dingen im Osten und im Süden. Aber seit der letzten Woche, ich will nicht sagen: Das ist ein Sitz-Krieg geworden. Aber die Bewegungen sind sehr bescheiden geworden. Man rückt ein bisschen vor, es geht um einen Vorort, es geht mal um eine Straßenkreuzung. Aber die Idee oder die Befürchtung, dass Russland und die Ukraine in einer Art Blitzkrieg überrollt, ist nicht passiert. Das ist natürlich einerseits für die Ukraine sehr gut, weil sonst würde ich ja schon zu Ende, umgekehrt ist es aber so, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, die russische Bewegung wirklich zu stoppen. Das geht nur sehr langsam. Und das sehen wir vor allen Dingen um Charkow und Kiew herum, dass Russland nach wie vor dabei ist, diese Städte abzuschnüren und immer weniger Straßen und Eisenbahnlinien in die Städte reingehen. Lange Rede, kurzer Sinn: das ist sicherlich nicht so, wie Putin sich das vorgestellt hat. Aber man sollte auch nicht so tun, als wäre Kiew jetzt auf der Siegerstraße. Das ist auch nicht der Fall.
Hendrik Holdmann: Nach Angaben der ukrainischen Regierung – ein Sprecher von Zielinski hat das gerade verlautbart – habe sich der Vormarsch der russischen Truppen verlangsamt. Auch du hast das eben bestätigt. Man kommt zumindest nicht ganz so schnell voran, wie das in den ersten Tagen des Krieges der Fall war. Auch deshalb würde Russland jetzt verstärkt zivile Ziele angreifen, heißt es von der ukrainischen Regierung. Stimmt das so?
Gernot Kramper: Was wir auf jeden Fall sehen, ist, dass Russland in der letzten Woche viel stärker massive große Bomben, 500-Kilo-Bomben einsetzt, die ja auch diese riesigen Krater und Verwüstungen in den Gebäuden rundherum hinterlassen und dazu eben diese Flächen-Werfer auch einsetzen. Mehr Artillerie. Artillerie hat in der russischen Armee überhaupt eine sehr viel größere Bedeutung als bei uns. Und das setzen die Russen zusehends rücksichtslos ein. Und darunter leidet auch die zivile Bebauung. Jetzt ist es aber natürlich die Frage: Was ist zivil? Zivil ist ein Gebäude ja nicht, weil es ein Apartmenthaus ist, sondern zivil ist es auch nur solange, solange es nicht militärisch genutzt wird. Und das können wir letzten Endes nicht überprüfen. Wir können nicht sagen: Ist in diesem Ort eine Patrouille? Sind da ukrainische Soldaten in dem Gebäude mit Anti-Panzer-Raketen, die von den Dächern aus oder von den oberen Etagen nach unten schießen? Der Krieg wird langsamer, weil die Ukrainer sind in der Lage, die Russen zu stoppen, sobald Bebauung da ist, sobald sie da Rückhalt finden nicht im offenen Feld sind. Aber sobald Bebauung da ist, sind auch Zivilisten da. Das ist so ein bisschen das Problem dabei.
Hendrik Holdmann: Im Internet kursieren Videos, die ukrainische Überraschungsangriffe kleiner Gruppen zeigen. Sind solche Guerilla-Methoden jetzt die neue Verteidigungstaktik der Ukraine?
Gernot Kramper: Ja ohne Frage. Also die die Ukraine hemmt den russischen Vormarsch, indem sie die langen Versorgungs Linien angreift und durch diese kleinen Truppen und die tragbaren Anti-Panzer-Raketen und Anti-Luftraketen machen es eben möglich. Diese Raketen haben eine effektive Reichweite von 1000, 2000 Metern. Das heißt, die kleine Gruppe muss gar nicht unbedingt an die Straße heran, um das Feuer zu eröffnen. Dazu setzen die Ukrainer Drohnen ein und leiten mit ihnen Artillerie Schläge. Damit versuchen sie die russischen Vormarsch zu hemmen, indem sie die Truppen auf der Straße angreifen. Und das werden wir verstärkt sehen. Was wir aber sicherlich auch sehen werden oder erleben werden, ist, dass die russische Seite da auch Gegenmaßnahmen ergreifen wird. Es ist absolut zu erwarten, dass Kommandos aus Russland oder die tschetschenischen Kommandos Jagd wiederum auf diese ukrainischen Gruppen im Hinterland machen und versuchen, sie aufzuspüren. Eben auch mit Drohnen, mit Kameras, aber vor allem, was es da alles gibt. Und die werden diese Gruppen dann nicht Mann zu Mann mit dem Messer wie in so einem Hollywoodfilm versuchen auszuschalten, sondern indem sie massive Artillerie-Schläge dorthin schicken, wo die sich verstecken. Das wird in aller Regel wiederum in irgendeiner Form ziviler Bebauung sein.
Hendrik Holdmann: Der große erwartete Sturm auf Kiew ist bislang ausgeblieben. Wann könnte es losgehen? Und was bereitet Moskau aktuell noch vor?
Gernot Kramper: Einen wirklichen Sturm auf Kiew, so wie wir das vielleicht aus der Schlacht von Berlin kennen, wird es so nicht geben. Dafür reichen die Truppenstärke einfach nicht. Allein in Berlin hat die Rote Armee über eine Million Soldaten im Kampf um Berlin um die Stadt eingesetzt. Davon sind die Russen weit entfernt, davon sind auch die Ukrainer weit entfernt. Die Russen werden versuchen, weiter sich in den Vororten vorzuarbeiten und tatsächlich alle Zufahrtsstraßen und die Eisenbahnverbindung unter ihre Kontrolle zu bringen. Und dann bricht die Versorgung in der Stadt zusammen. Das ist dann wird es schwer für die Zivilisten da zu bleiben, weil auch, ob man das mit Absicht sabotiert oder ob es durch die Kampfhandlungen passiert; dann wird Wasser und Strom unterbrochen und die ukrainischen Verteidiger haben dann die unangenehme Lage, dass keine weiteren Verstärkungen, keine Munition, kein Benzin, keine Waffen, keine Reservisten mehr in die Stadt einsickern können. Es wird eine Belagerung werden, es wird kein Sturm sein.
Hendrik Holdmann: Die Ukraine hat viele Waffen von westlichen Ländern geliefert bekommen. Das verlängert den Krieg einerseits – macht ihn noch blutiger – andererseits könnte Russland so an den Verhandlungstisch gezwungen werden oder nicht?
Gernot Kramper: Wenn die Ukraine in der Lage ist, diese Verteidigungslinie weiter zu halten und ihre Stellungen nicht zusammenbrechen, werden die Russen weiterhin hohe Verluste erleiden. Verluste, die Putin im Inland so nicht verkaufen kann. Wir müssen uns erinnern, im Inland wird ja gesagt: Das ist eine Befreiungsaktion, wo das Brudervolk von einer Nazi-Regierung befreit wird. Und da würde man vielleicht einige Verluste erwarten, aber auch die jetzt schon geschehenen eigentlich nicht. Und je länger die Ukraine in der Lage ist, das aufrechtzuerhalten – eigene Verluste in Kauf zu nehmen, aber vor allem dem russischen Gegner zuzuführen, umso näher kommen sie an eine Verhandlungslösung. Weil innenpolitisch wird das für Putin ein Riesenproblem. Wenn jede Woche nach wie vor, so viele Soldaten fallen und so viel Material. Wie viel tote Russen es wirklich gibt, weiß kein Mensch. Die Schätzung aus der Ukraine sind sicherlich zu optimistisch, aber wir sehen ja auch das vernichtete Gerät. Und man muss auch sagen: Auf jeden Toten kommen auch Schwerverletzte und Schwerstverletzte. Das heißt, es sind beträchtliche Verluste auf jeden Fall da, die in die Tausenden gehen.
Hendrik Holdmann: Noch immer hat Russland nicht die Lufthoheit in der Ukraine erlangt. Warum nicht?
Gernot Kramper: Das ist eine Entzauberung der russischen Militärmaschine. Das hätte auf jeden Fall passieren müssen. Da gibt es verschiedene Gründe dafür. Einer der Gründe, den ich vermute, die ich vermute, ist das, dass die Ukrainer mit so etwas gerechnet haben und ein Teil ihrer Luft-Kräfte und Luft-Verteidigungskräfte einfach zurückhalten. Es ist so: Eine schwere Luftabwehr-Batterie kann den Luftraum sperren, aber dann gibt sie sich zu erkennen allein über ihre Radar-Signatur und kann bekämpft werden. Halte ich sie aber zurück und verstecke sie in einer Maschinenhalle, dann sind sie für den Russen eigentlich nicht zu greifen in diesem Moment – und kann jederzeit wieder aktiv werden. Ich vermute also, dass ein Teil der Luftstreitkräfte einfach nicht auf den Flughäfen nicht im Einsatz war, sondern zurückgehalten wurde und jetzt überfallartig nur in einzelnen Situationen aktiv wird. Das macht die Sache für die Russen relativ schwierig. Und dazu kommt, dass der Westen in einem sehr großen Maßstab Anti-Luft-Raketen geliefert hat. Ist es ja auch die Rede von diesen alten NVA Waffen gewesen, die wir liefern wollen. Aber es sind auch sehr viel moderne Luftabwehrraketen gekommen. Die Briten wollen ein sehr modernes System jetzt nochmal liefern. Und das setzt den Russen auf jeden Fall zu. Weil das sind keine Allheilmittel, aber die Systeme verhindern eine absolute Luft-Herrschaft, weil sie den den Raum unter 3000 Metern immer gefährden und diese tausenden von Raketen kann Russland nicht ausschalten. Die werden immer irgendwie in dem Land sein. Selbst wenn es große russische Erfolge oder Siege gibt, ist das nicht so, dass es einige zentrale Systeme sind, die man ausschalten kann, sondern die können überall sein, die können in jedem Keller versteckt sein. Und sie sind zu Tausenden in die Ukraine gekommen. Das heißt, dieses Problem wird Russland weiterhin haben.
Hendrik Holdmann: Die Ukraine hat aktuell ja immer noch Drohnen in der Luft und kann damit auch Erfolge verbuchen und militärisches Gerät der Russen ausschalten. Gehört das mit zur Lufthoheit?
Gernot Kramper: Das gehört ohne Frage dazu, weil es fliegt. Ja, man muss vielleicht unterscheiden. Das eine sind kleine Beobachtungs-Drohnen, die wird man nie ausschalten können, weil letzten Endes kannst du ja jede Hobbyfotografen-Drohne heutzutage auch militärisch nutzen und die Ukraine wird das tun. Und es wäre für die Ukraine auch sehr gut, wenn der Westen im großen Maßstab Industrie-Drohnen, Landwirtschafts-Drohnen und diese von Fotografen-Drohnen einfach schickt, auch wenn das eigentlich kein militärisches Gerät ist. Das sind aber eigentlich Geräte, die keinen eigentlichen Angriff starten, sondern die beobachten. Klar eine Landwirtschafts-Drohne könnte auch eine Bombe abwerfen. Aber das sind so Sonderfälle. Die Ukraine bekommt nach wie vor türkische Kampfdrohnen in die Luft, mit denen sie Angriffe fliegen kann. Zumindest was die Videos so sagen. Die Videos sind authentisch, aber sie können natürlich zeitlich nicht wirklich eingeordnet werden. Kein Mensch kann jetzt beurteilen, ob ein Video, was jetzt veröffentlicht wurde, nicht vielleicht doch von der letzten Woche schon stammt. Aber das bedeutet, die Ukraine bekommt diese Drohnen in die Luft und die Russen bekommen sie nicht regelmäßig abgeschossen.
Hendrik Holdmann: In den letzten Tagen wurde ja auch über eine Lieferung von MiG-29-Kampfjets an die Ukraine diskutiert. Was sind das für Flugzeuge und was würde diese Lieferung bringen?
Gernot Kramper: Das sind alte Jäger aus sowjetischer Produktion. Das sind sehr leistungsfähige Flugzeuge – mal gewesen muss man sagen, die eine andere Einsatz-Doktrin haben als wir im Westen haben. Die sind also anders aufgebaut. Es sind aber leistungsfähige Flugzeuge. So eigentlich sind es Jagdflugzeuge. Es gibt, so viel ich weiß, auch so ein paar Kampfbomber-Varianten. Jetzt kann man natürlich sagen: Ups, die sind ja natürlich uralt; sind aber modernisiert worden. Aber man muss sagen, dass der gesamte fliegende Apparat häufig sehr alt ist. Also wir dürfen ja nicht vergessen, wenn wir das russische Gerät ansehen, dass bei uns der Tornado auch schon ein betagtes Gerät ist. Die Frage, ob das der Ukraine jetzt wirklich nutzt, ist sehr schwer zu beantworten. Weil Großgerät hat immer einen sehr großen logistischen Fußabdruck. Diese kleinen Raketen, die wir vorhin erwähnt haben, die werden in einer Box geliefert, die sind nicht so schwer zu bedienen und die kann man im Keller ein halbes Jahr liegen lassen. Die kannst du rausnehmen und sie funktionieren. Da muss vielleicht mal die Batterie ausgetauscht werden und man kann das vielleicht nicht 50 Jahre lang machen. Ein Flugzeug braucht eine Crew, das braucht Ersatzteile, das braucht ein Hangar. Insofern ist das sehr schwer zu verstehen, wie das eigentlich funktionieren soll. Und es ist sicherlich auch im Wesentlichen eine politische Diskussion mit der Kiew versucht, die NATO oder zumindest einzelne NATO-Staaten zu einer Hilfe zu bringen, die Russland auf jeden Fall als starke Provokation empfindet. Also hier würde ich den Hauptaugenmerk nicht auf den Kampfwert dieser Flugzeuge legen, sondern auf den politischen Wert, die diese Hilfe für Kiew haben könnte. Und das Problem ist bloß, das haben die Amerikaner ja auch in ihrer Antwort gesagt, dass sie dieses Problem durchaus auch sie wollen sich nicht aktiv in diesen Krieg hineinziehen lassen. Und da muss man tatsächlich auch fragen, wie viel NATO-Länder oder wie viel europäische Länder – bei aller Sympathie für die Ukraine – wären dazu bereit. Und da sind praktisch diese Flugzeuge so ein Gradmesser. Der eigentliche militärische Wert tritt dahinter zurück, zumal – wie ich schon gesagt habe – ich mir nicht vorstellen kann; es ist nicht so, dass man diese Flugzeuge irgendwie in die Ukraine schafft und dann sind sie einsatzbereit.
Gernot Kramper: Das ist sicherlich nicht so, wie Putin sich das vorgestellt hat. Aber man sollte auch nicht so tun, als wäre Kiew jetzt auf der Siegerstraße.
Dazu setzen die Ukrainer Drohnen ein und leiten mit ihnen Artillerie-Schläge. Damit versuchen sie den russischen Vormarsch zu hemmen, indem sie die Truppen auf der Straße angreifen. Und das werden wir verstärkt sehen.
Was ist zivil? Zivil ist ein Gebäude ja nicht, weil es ein Apartmenthaus ist. Sondern zivil ist es auch nur solange, solange es nicht militärisch genutzt wird.
Hendrik Holdmann: Zwei Wochen Krieg in der Ukraine. Wie ist der Krieg gestartet? Wie hat er sich entwickelt? Und wie ist die aktuelle Lage?
Gernot Kramper: Ja, der Krieg hat sich ja zuerst sehr schnell entwickelt. Man muss sagen, in den ersten 24 Stunden haben die Russen massive Geländegewinne gemacht. Und man hat gedacht – und auch westliche Experten in ihren Kriegsspielen haben ja berechnet – als würde das immer so weitergehen. Und danach ist sehr viel weniger passiert. Es hat noch Geländegewinne gegeben, vor allen Dingen im Osten und im Süden. Aber seit der letzten Woche, ich will nicht sagen: Das ist ein Sitz-Krieg geworden. Aber die Bewegungen sind sehr bescheiden geworden. Man rückt ein bisschen vor, es geht um einen Vorort, es geht mal um eine Straßenkreuzung. Aber die Idee oder die Befürchtung, dass Russland und die Ukraine in einer Art Blitzkrieg überrollt, ist nicht passiert. Das ist natürlich einerseits für die Ukraine sehr gut, weil sonst würde ich ja schon zu Ende, umgekehrt ist es aber so, dass die Ukraine nicht in der Lage ist, die russische Bewegung wirklich zu stoppen. Das geht nur sehr langsam. Und das sehen wir vor allen Dingen um Charkow und Kiew herum, dass Russland nach wie vor dabei ist, diese Städte abzuschnüren und immer weniger Straßen und Eisenbahnlinien in die Städte reingehen. Lange Rede, kurzer Sinn: das ist sicherlich nicht so, wie Putin sich das vorgestellt hat. Aber man sollte auch nicht so tun, als wäre Kiew jetzt auf der Siegerstraße. Das ist auch nicht der Fall.
Hendrik Holdmann: Nach Angaben der ukrainischen Regierung – ein Sprecher von Zielinski hat das gerade verlautbart – habe sich der Vormarsch der russischen Truppen verlangsamt. Auch du hast das eben bestätigt. Man kommt zumindest nicht ganz so schnell voran, wie das in den ersten Tagen des Krieges der Fall war. Auch deshalb würde Russland jetzt verstärkt zivile Ziele angreifen, heißt es von der ukrainischen Regierung. Stimmt das so?
Gernot Kramper: Was wir auf jeden Fall sehen, ist, dass Russland in der letzten Woche viel stärker massive große Bomben, 500-Kilo-Bomben einsetzt, die ja auch diese riesigen Krater und Verwüstungen in den Gebäuden rundherum hinterlassen und dazu eben diese Flächen-Werfer auch einsetzen. Mehr Artillerie. Artillerie hat in der russischen Armee überhaupt eine sehr viel größere Bedeutung als bei uns. Und das setzen die Russen zusehends rücksichtslos ein. Und darunter leidet auch die zivile Bebauung. Jetzt ist es aber natürlich die Frage: Was ist zivil? Zivil ist ein Gebäude ja nicht, weil es ein Apartmenthaus ist, sondern zivil ist es auch nur solange, solange es nicht militärisch genutzt wird. Und das können wir letzten Endes nicht überprüfen. Wir können nicht sagen: Ist in diesem Ort eine Patrouille? Sind da ukrainische Soldaten in dem Gebäude mit Anti-Panzer-Raketen, die von den Dächern aus oder von den oberen Etagen nach unten schießen? Der Krieg wird langsamer, weil die Ukrainer sind in der Lage, die Russen zu stoppen, sobald Bebauung da ist, sobald sie da Rückhalt finden nicht im offenen Feld sind. Aber sobald Bebauung da ist, sind auch Zivilisten da. Das ist so ein bisschen das Problem dabei.
Hendrik Holdmann: Im Internet kursieren Videos, die ukrainische Überraschungsangriffe kleiner Gruppen zeigen. Sind solche Guerilla-Methoden jetzt die neue Verteidigungstaktik der Ukraine?
Gernot Kramper: Ja ohne Frage. Also die die Ukraine hemmt den russischen Vormarsch, indem sie die langen Versorgungs Linien angreift und durch diese kleinen Truppen und die tragbaren Anti-Panzer-Raketen und Anti-Luftraketen machen es eben möglich. Diese Raketen haben eine effektive Reichweite von 1000, 2000 Metern. Das heißt, die kleine Gruppe muss gar nicht unbedingt an die Straße heran, um das Feuer zu eröffnen. Dazu setzen die Ukrainer Drohnen ein und leiten mit ihnen Artillerie Schläge. Damit versuchen sie die russischen Vormarsch zu hemmen, indem sie die Truppen auf der Straße angreifen. Und das werden wir verstärkt sehen. Was wir aber sicherlich auch sehen werden oder erleben werden, ist, dass die russische Seite da auch Gegenmaßnahmen ergreifen wird. Es ist absolut zu erwarten, dass Kommandos aus Russland oder die tschetschenischen Kommandos Jagd wiederum auf diese ukrainischen Gruppen im Hinterland machen und versuchen, sie aufzuspüren. Eben auch mit Drohnen, mit Kameras, aber vor allem, was es da alles gibt. Und die werden diese Gruppen dann nicht Mann zu Mann mit dem Messer wie in so einem Hollywoodfilm versuchen auszuschalten, sondern indem sie massive Artillerie-Schläge dorthin schicken, wo die sich verstecken. Das wird in aller Regel wiederum in irgendeiner Form ziviler Bebauung sein.
Hendrik Holdmann: Der große erwartete Sturm auf Kiew ist bislang ausgeblieben. Wann könnte es losgehen? Und was bereitet Moskau aktuell noch vor?
Gernot Kramper: Einen wirklichen Sturm auf Kiew, so wie wir das vielleicht aus der Schlacht von Berlin kennen, wird es so nicht geben. Dafür reichen die Truppenstärke einfach nicht. Allein in Berlin hat die Rote Armee über eine Million Soldaten im Kampf um Berlin um die Stadt eingesetzt. Davon sind die Russen weit entfernt, davon sind auch die Ukrainer weit entfernt. Die Russen werden versuchen, weiter sich in den Vororten vorzuarbeiten und tatsächlich alle Zufahrtsstraßen und die Eisenbahnverbindung unter ihre Kontrolle zu bringen. Und dann bricht die Versorgung in der Stadt zusammen. Das ist dann wird es schwer für die Zivilisten da zu bleiben, weil auch, ob man das mit Absicht sabotiert oder ob es durch die Kampfhandlungen passiert; dann wird Wasser und Strom unterbrochen und die ukrainischen Verteidiger haben dann die unangenehme Lage, dass keine weiteren Verstärkungen, keine Munition, kein Benzin, keine Waffen, keine Reservisten mehr in die Stadt einsickern können. Es wird eine Belagerung werden, es wird kein Sturm sein.
Hendrik Holdmann: Die Ukraine hat viele Waffen von westlichen Ländern geliefert bekommen. Das verlängert den Krieg einerseits – macht ihn noch blutiger – andererseits könnte Russland so an den Verhandlungstisch gezwungen werden oder nicht?
Gernot Kramper: Wenn die Ukraine in der Lage ist, diese Verteidigungslinie weiter zu halten und ihre Stellungen nicht zusammenbrechen, werden die Russen weiterhin hohe Verluste erleiden. Verluste, die Putin im Inland so nicht verkaufen kann. Wir müssen uns erinnern, im Inland wird ja gesagt: Das ist eine Befreiungsaktion, wo das Brudervolk von einer Nazi-Regierung befreit wird. Und da würde man vielleicht einige Verluste erwarten, aber auch die jetzt schon geschehenen eigentlich nicht. Und je länger die Ukraine in der Lage ist, das aufrechtzuerhalten – eigene Verluste in Kauf zu nehmen, aber vor allem dem russischen Gegner zuzuführen, umso näher kommen sie an eine Verhandlungslösung. Weil innenpolitisch wird das für Putin ein Riesenproblem. Wenn jede Woche nach wie vor, so viele Soldaten fallen und so viel Material. Wie viel tote Russen es wirklich gibt, weiß kein Mensch. Die Schätzung aus der Ukraine sind sicherlich zu optimistisch, aber wir sehen ja auch das vernichtete Gerät. Und man muss auch sagen: Auf jeden Toten kommen auch Schwerverletzte und Schwerstverletzte. Das heißt, es sind beträchtliche Verluste auf jeden Fall da, die in die Tausenden gehen.
Hendrik Holdmann: Noch immer hat Russland nicht die Lufthoheit in der Ukraine erlangt. Warum nicht?
Gernot Kramper: Das ist eine Entzauberung der russischen Militärmaschine. Das hätte auf jeden Fall passieren müssen. Da gibt es verschiedene Gründe dafür. Einer der Gründe, den ich vermute, die ich vermute, ist das, dass die Ukrainer mit so etwas gerechnet haben und ein Teil ihrer Luft-Kräfte und Luft-Verteidigungskräfte einfach zurückhalten. Es ist so: Eine schwere Luftabwehr-Batterie kann den Luftraum sperren, aber dann gibt sie sich zu erkennen allein über ihre Radar-Signatur und kann bekämpft werden. Halte ich sie aber zurück und verstecke sie in einer Maschinenhalle, dann sind sie für den Russen eigentlich nicht zu greifen in diesem Moment – und kann jederzeit wieder aktiv werden. Ich vermute also, dass ein Teil der Luftstreitkräfte einfach nicht auf den Flughäfen nicht im Einsatz war, sondern zurückgehalten wurde und jetzt überfallartig nur in einzelnen Situationen aktiv wird. Das macht die Sache für die Russen relativ schwierig. Und dazu kommt, dass der Westen in einem sehr großen Maßstab Anti-Luft-Raketen geliefert hat. Ist es ja auch die Rede von diesen alten NVA Waffen gewesen, die wir liefern wollen. Aber es sind auch sehr viel moderne Luftabwehrraketen gekommen. Die Briten wollen ein sehr modernes System jetzt nochmal liefern. Und das setzt den Russen auf jeden Fall zu. Weil das sind keine Allheilmittel, aber die Systeme verhindern eine absolute Luft-Herrschaft, weil sie den den Raum unter 3000 Metern immer gefährden und diese tausenden von Raketen kann Russland nicht ausschalten. Die werden immer irgendwie in dem Land sein. Selbst wenn es große russische Erfolge oder Siege gibt, ist das nicht so, dass es einige zentrale Systeme sind, die man ausschalten kann, sondern die können überall sein, die können in jedem Keller versteckt sein. Und sie sind zu Tausenden in die Ukraine gekommen. Das heißt, dieses Problem wird Russland weiterhin haben.
Hendrik Holdmann: Die Ukraine hat aktuell ja immer noch Drohnen in der Luft und kann damit auch Erfolge verbuchen und militärisches Gerät der Russen ausschalten. Gehört das mit zur Lufthoheit?
Gernot Kramper: Das gehört ohne Frage dazu, weil es fliegt. Ja, man muss vielleicht unterscheiden. Das eine sind kleine Beobachtungs-Drohnen, die wird man nie ausschalten können, weil letzten Endes kannst du ja jede Hobbyfotografen-Drohne heutzutage auch militärisch nutzen und die Ukraine wird das tun. Und es wäre für die Ukraine auch sehr gut, wenn der Westen im großen Maßstab Industrie-Drohnen, Landwirtschafts-Drohnen und diese von Fotografen-Drohnen einfach schickt, auch wenn das eigentlich kein militärisches Gerät ist. Das sind aber eigentlich Geräte, die keinen eigentlichen Angriff starten, sondern die beobachten. Klar eine Landwirtschafts-Drohne könnte auch eine Bombe abwerfen. Aber das sind so Sonderfälle. Die Ukraine bekommt nach wie vor türkische Kampfdrohnen in die Luft, mit denen sie Angriffe fliegen kann. Zumindest was die Videos so sagen. Die Videos sind authentisch, aber sie können natürlich zeitlich nicht wirklich eingeordnet werden. Kein Mensch kann jetzt beurteilen, ob ein Video, was jetzt veröffentlicht wurde, nicht vielleicht doch von der letzten Woche schon stammt. Aber das bedeutet, die Ukraine bekommt diese Drohnen in die Luft und die Russen bekommen sie nicht regelmäßig abgeschossen.
Hendrik Holdmann: In den letzten Tagen wurde ja auch über eine Lieferung von MiG-29-Kampfjets an die Ukraine diskutiert. Was sind das für Flugzeuge und was würde diese Lieferung bringen?
Gernot Kramper: Das sind alte Jäger aus sowjetischer Produktion. Das sind sehr leistungsfähige Flugzeuge – mal gewesen muss man sagen, die eine andere Einsatz-Doktrin haben als wir im Westen haben. Die sind also anders aufgebaut. Es sind aber leistungsfähige Flugzeuge. So eigentlich sind es Jagdflugzeuge. Es gibt, so viel ich weiß, auch so ein paar Kampfbomber-Varianten. Jetzt kann man natürlich sagen: Ups, die sind ja natürlich uralt; sind aber modernisiert worden. Aber man muss sagen, dass der gesamte fliegende Apparat häufig sehr alt ist. Also wir dürfen ja nicht vergessen, wenn wir das russische Gerät ansehen, dass bei uns der Tornado auch schon ein betagtes Gerät ist. Die Frage, ob das der Ukraine jetzt wirklich nutzt, ist sehr schwer zu beantworten. Weil Großgerät hat immer einen sehr großen logistischen Fußabdruck. Diese kleinen Raketen, die wir vorhin erwähnt haben, die werden in einer Box geliefert, die sind nicht so schwer zu bedienen und die kann man im Keller ein halbes Jahr liegen lassen. Die kannst du rausnehmen und sie funktionieren. Da muss vielleicht mal die Batterie ausgetauscht werden und man kann das vielleicht nicht 50 Jahre lang machen. Ein Flugzeug braucht eine Crew, das braucht Ersatzteile, das braucht ein Hangar. Insofern ist das sehr schwer zu verstehen, wie das eigentlich funktionieren soll. Und es ist sicherlich auch im Wesentlichen eine politische Diskussion mit der Kiew versucht, die NATO oder zumindest einzelne NATO-Staaten zu einer Hilfe zu bringen, die Russland auf jeden Fall als starke Provokation empfindet. Also hier würde ich den Hauptaugenmerk nicht auf den Kampfwert dieser Flugzeuge legen, sondern auf den politischen Wert, die diese Hilfe für Kiew haben könnte. Und das Problem ist bloß, das haben die Amerikaner ja auch in ihrer Antwort gesagt, dass sie dieses Problem durchaus auch sie wollen sich nicht aktiv in diesen Krieg hineinziehen lassen. Und da muss man tatsächlich auch fragen, wie viel NATO-Länder oder wie viel europäische Länder – bei aller Sympathie für die Ukraine – wären dazu bereit. Und da sind praktisch diese Flugzeuge so ein Gradmesser. Der eigentliche militärische Wert tritt dahinter zurück, zumal – wie ich schon gesagt habe – ich mir nicht vorstellen kann; es ist nicht so, dass man diese Flugzeuge irgendwie in die Ukraine schafft und dann sind sie einsatzbereit.