Die klugen Köpfe aus der Werbebranche kennen im Frühsommer nur ein Ertüchtigungsprogramm: Ihre Bauch-Auge-Hirn-Turnübungen finden, wie es sich für das glamouröse Geschäft gehört, in Cannes an der südfranzösischen Rivieraküste statt. Denn Werbung soll in erster Linie erst den Bauch ansprechen, soll berühren und überraschen. Sehen und verstehen folgen erst an zweiter Stelle.
Die Jury wird's schon richten
Für viele der Angereisten geht es dabei um Passivsport - richtig anstrengen muss sich nur noch die Jury. Die anderen haben das vorher getan. Sie haben ein Jahr lang versucht, den richtigen Kunden und das richtige Produkt zu finden, um dann einen Werbespot, eine Printanzeige oder eine Online-Kampagne zu ersinnen. Eine von der Sorte, die dafür sorgt, dass sich die Welt für einen Moment langsamer dreht. Die größtmögliche Aufmerksamkeit erreicht, und die den Verbraucher forthin keinen klaren Konsumgedanken mehr fassen lässt, weil sich der Name der beworbenen fettarmen Milch oder einer Wandfarbe unauslöschlich in seine Liddeckel eingebrannt hat.
Preise erhöhen das Prestige ungemein
Weil nichts so gut tut wie die Zustimmung von Gleichgesinnten und der zähneknirschenden Applaus von Konkurrenten, werden die Kampagnen in Wettbewerben gegeneinander ins Rennen geschickt. Schon seit 50 Jahren ist Cannes ihr Circus Maximus - und weil es so gut passt, heißen die Preise 'Löwen'. Wer einen solchen mit nach Hause nimmt, strahlt am Buffet auch deshalb glücklich, weil er damit gleichzeitig ein Stück vom Kuchen der Kundengunst in einer handlichen Schachtel serviert bekommt. Ohne einen Platz weit oben in den Kreativ-Ranglisten, die aus solchen Preisvergaben zusammengerechnet werden, kann schon die Teilnahme am Kampf um einen Auftrag für eine Agentur schwierig sein. Preise hingegen steigern die Preise, und locken gleichzeitig die besten Mitarbeiter in die Höhle des Löwen. JungvonMatt-Vorstand Deneke von Weltzien ist sich sicher: "Jeder Kreative ist medaillengeil."
Jede Einsendung kostet
Aus all diesen guten Gründen darf das Ganze dann schon mal ein kleines Vermögen wert sein, denn die Teilnahme am Wettbewerb kostet jede Menge Geld. Große Werbeunternehmen stecken bis zu mehreren hunderttausend Euro jährlich in den Wettbewerbszirkus. Wer nicht dabei ist, ist entweder ein Spielverderber oder - viel wahrscheinlicher - arm dran. Für die Bedeutung des Wettbewerbes spricht, dass 2003 16.392 Arbeiten unter die kritischen Blicke der Jury-Mitglieder geschoben wurden. 1.485 davon kamen aus Deutschland, immerhin so viele wie 2001 und 2002 zusammen. Und das trotz - oder vielleicht gerade wegen - der Branchenkrise. Viele Unternehmen haben in der Konjunkturflaute ihre Werbeetats radikal runtergefahren. In dieser Situation wird aus dem Gold für die Vitrine recht schnell auch Gold auf dem Bankkonto. Zumindest für das nächste halbe Jahr.