Manchmal werden Nachrichten als gute Nachrichten verkauft, obwohl sie in Wahrheit keine sind. Natürlich ist es gut, dass die Abstimmung ums Rentenpaket nun doch nicht zu einer Regierungskrise führt, keine Frage. Trotzdem muss ich Wasser in den Wein gießen: Denn das verabschiedete Reformpaket ist zwar der kleinstmögliche Kompromiss, auf den sich die Regierungsparteien unter größtmöglichen Mühen überhaupt verständigen konnten. Aber statt das angeschlagene Rentensystem zu reformieren, macht es alles nur noch schlimmer. "Eigentlich ist der Zug in Deutschland mit dem Beschluss dieses Gesetzes abgefahren", sagt Rentenforscher Frank Eich kopfschüttelnd. "Deutschland verweigert sich damit total dem dringend nötigen Wandel. Das ist glattes Politikversagen."
Der Ökonom lebt seit Jahren in London und beobachtet die deutsche Reformdiskussion aus dem Ausland. Er ist vielleicht keine Stimme, die man hierzulande kennt, doch seine Expertise ist groß: Eich hat schon viele europäische Staaten beim Umbau ihres Rentensystems beraten, er war Beamter beim britischen Finanzministerium und lieferte 2008 auch dem hiesigen Finanzminister Steinbrück Impulse für nötige Rentenreformen. Deswegen sollte man zuhören, wenn er sagt: "Während alle anderen Staaten ihre Rentensysteme inzwischen stabiler aufgestellt haben und einen Ausweg aus der Demografiefalle gefunden haben, hat Deutschland bisher jede mögliche Ausfahrt verpasst", sagt er. Ab jetzt rollt nämlich die Babyboomerwelle in den Ruhestand, noch bis 2040 etwa. "Und sie wirkt wie ein Tsunami", sagt Eich.
Denn die jüngeren Beschäftigten müssen die Renten dieser viel größeren Kohorte finanzieren. Und während die Jungen zahlenmäßig weniger werden, nimmt die Menge der Älteren rasant zu. "Dieses Problem mit der Rente verstehen die Leute vielleicht, aber nicht dessen Ausmaß", sagt Eich: "Wir bräuchten 15 Millionen zusätzliche Beschäftigte bis 2040, um auch nur annähernd für Konstanz im System zu sorgen. Das wird nicht funktionieren." Weder der konjunkturell übliche Arbeitsplatzaufbau wird für diese Menge an neuen Beschäftigten sorgen (falls die Konjunktur wieder anspringt und Unternehmen vermehrt einstellen), noch wird die Zuwanderung so viele Menschen ins Land spülen. Selbst eine steigende Geburtenrate könnte das Problem nicht lösen. Sie brächte frühestens in 20 Jahren die erste Entlastung. Bis dahin aber hätte sich das Problem der Babyboomer allmählich auch auf natürliche Weise erledigt, so makaber das klingt.
Der wahre Grund, warum Deutschland nichts tut
Warum aber tut Deutschland bisher nichts dagegen – sondern manövriert sich immer tiefer ins Problem hinein? Mit neuen Regeln für vorzeitigen Rentenbeginn, mit zusätzlichen Mütterrenten und festen Haltelinien, die auch nach 2031 noch gelten sollen. Im Prinzip gibt es drei Gründe dafür: Erstens denken Politiker, mit echten Reformen könnten sie keine Wahlen gewinnen. Denn für irgendwen werden Reformen Einschnitte bedeuten müssen. Also schoben alle Politiker die Änderungen auf die lange Bank. Oder drehten sogar gute Ansätze der letzten echten Reform von 2007 wieder zurück.
Zweitens fehle hierzulande der nationale Konsens, beobachtet Eich aus London: "In Schweden, Großbritannien, den Niederlanden, Norwegen, der Schweiz – überall gab es in den 90er Jahren letztlich eine breite gesellschaftliche Zustimmung, die Rentensysteme für den demografischen Wandel zu wappnen." Deshalb steuerten all diese Länder um. Sie öffneten die Systeme schon vor 30 Jahren für mehr Einzahler, vereinheitlichten Leistungen, begannen, die Umlagesysteme mit Kapitaldeckung zu ergänzen. Teils auch, weil sie von schweren Wirtschaftskrisen getroffen wurden und Einschnitte dadurch umso zwingender erschienen. Deutschland dagegen war in diesen Jahren mit einem anderen Problem beschäftigt: mit der Wiedervereinigung. Und heute ist die gesellschaftliche Stimmung weit von jeglicher Einigkeit entfernt.
Drittens seien Deutschlands Größe und seine Sprache ein Grund dafür, weswegen Menschen hierzulande weniger auf andere Länder schauten und auf internationale, englischsprachige Studien zu ausländischen Rentensystemen, beobachtet Eich. Wir lebten in einer Blase: "Jeder sollte über den eigenen Tellerrand schauen. Aber wenn der eigene Teller schon so groß ist, wird es schwierig, überhaupt noch den Rand zu sehen."
Was jetzt nötig wäre bei der Rente
Nun hilft es aber auch niemandem, resigniert festzustellen, dass der Zug hierzulande gerade abgefahren ist. Welche Möglichkeiten also könnte – und müsste – Deutschland jetzt ergreifen, um wenigstens noch den verspäteten nächsten Zug zu bekommen? Dazu hat Eich zwei steile Thesen:
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"Das Einzige, was uns jetzt noch helfen würde, ist: Die Babyboomer müssen ran, sie sind die Generation, die das Problem ausgelöst hat und die bisher sehr vom System profitiert haben." Sie hätten weder großartig die Elterngeneration unterstützen müssen, die für Wiederaufbau und Wirtschaftswunder verantwortlich war. Sie waren es auch, die in Summe zu wenige Kinder bekamen und dadurch die Demografiewelle in Gang setzten. "Sie haben die Welle bisher geritten und selber gut konsumiert", so sagt der Ökonom Eich. Derzeit nehmen viele von ihnen auch die vorgezogene Rente ab 63 Jahren in Anspruch, belegt die Statistik.
All das könne man niemandem vorwerfen, jeder Einzelne habe sich im Grunde richtig verhalten, findet Eich: "Doch nun ist es an der Zeit, in den Spiegel zu schauen und sich zu fragen: Will ich minimal mithelfen, damit wir das Problem bewältigen? Wäre es also möglich, dass ich ein Jahr länger arbeite?" Das würde nicht das Strukturproblem lösen, könnte aber wenigstens ein bisschen helfen.
Und warum die Kapitaldeckung nicht hilft
"Die kapitalgedeckte Altersvorsorge dagegen hilft uns leider überhaupt nicht", ist Eichs zweite steile These. Obwohl alle Welt neidisch auf die schwedische Aktienrente blickt, die international als so etwas wie der Goldstandard gilt. Obwohl in Norwegen die Aktienerträge sprudeln, weil der Staatsfonds die Gewinne der Ölförderung investierte und damit nun seine Rentenkasse aufbessert. Und obwohl auch deutsche Politiker die Kapitaldeckung neuerdings immer wieder als Lösung ins Spiel bringen, auch jetzt wieder mit der Forderung nach dem Altersvorsorgedepot oder dem Generationenkapital. All das aber wird zu spät kommen – wenn überhaupt.
"Die Kapitaldeckung hilft nicht bei der Bewältigung der Babyboomerwelle, die ab 2026 bis 2040 über die Republik rollt", sagt Eich, "dafür können wir jetzt kein Kapital mehr aufbauen, wie es andere Länder seit 30 Jahren tun, die nun vom Zinseszinseffekt profitieren. Denn etwas nachträglich vorzufinanzieren, ist unmöglich." Trotzdem sei die zusätzliche Kapitaldeckung im Rentensystem gut und auch nötig, betont er. Aber sie hilft eben erst den Generationen, die nach 2050 in Rente gehen. Wenigstens das ist dann doch eine gute Nachricht.