Ein Jahr EU-Erweiterung Durchwachsene Bilanz in Berlin

Fünfzehn Jahre nach der Wende sollte Berlin zur Drehscheibe zwischen Ost- und West-Europa. Aber vom Plan, zum Haupt-Umschlagplatz des boomenden Handels zwischen beiden Regionen zu werden, blieb nicht viel übrig.

Es sollte Berlins große Chance werden: Mit der EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 ist die deutsche Hauptstadt ins geographische Zentrum der Europäischen Union gerückt. Fünfzehn Jahre nach der Wende sollte Berlin zur Drehscheibe zwischen Ost- und West-Europa werden und zum Haupt-Umschlagplatz des boomenden Handels zwischen den beiden Regionen. Nun, ein Jahr später, hat in der Hauptstadt der Überschwang deutlich nachgelassen: Die Bilanz von Politik und Wirtschaft ist durchwachsen.

Viele Hoffnungen nicht erfüllt

Nach Ansicht von Experten haben sich zwar viele der im Vorfeld gehegten Ängste nicht bewahrheitet, gleichzeitig haben sich aber auch zahlreiche Hoffnungen nicht erfüllt. "Die befürchtete Welle der Billiglöhner ist nicht gekommen", sagt der Präsident der hiesigen Handwerkskammer, Stephan Schwarz. "Aber die Chancen, die uns die Erweiterung bietet, haben wir in Berlin noch nicht genutzt." Karl Brenke vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin findet die Erwartungen "völlig überzogen". "Durch den formalen Beitritt hat sich nicht viel geändert, weil schon in der zweiten Hälfte der Neunziger Jahre viele bilaterale Verträge geschlossen worden waren."

Im Zentrum der Kritik steht die lückenhafte Verkehrsanbindung Berlins. "Bevor man 500 Kilometer über eine Hoppelstraße nach Warschau fährt, kann man auch seinen Firmensitz in Düsseldorf haben und dann fliegen", bemängelt Wirtschaftsforscher Brenke. Dessen ist sich Wirtschaftssenator Harald Wolf (PDS) bewusst: "Die Verkehrsverbindungen müssen besser werden, zum Beispiel die Bahnanbindung nach Stettin."

Mehr Zulieferer aus Berlin

Auch die Verflechtung der Grenzregionen müsse vorangetrieben und dazu die Freizügigkeit von Arbeitnehmern so schnell wie möglich durchgesetzt werden, sagt Wolf. Dennoch profitierten Berliner Unternehmen bereits jetzt von der Erweiterung: "Fast die Hälfte der Unternehmen, die vor der EU-Erweiterung noch nicht in Mittel- und Osteuropa tätig waren, haben jetzt Geschäftsbeziehungen dorthin." 70 Prozent hätten Geschäftsbeziehungen nach Osteuropa. Der Vorsitzende des Mittel-Osteuropa-Clubs (MOE), Wolfram Martinsen, betont die Zugkraft von Investitionen. "Dadurch steigt beispielsweise die Zahl der Zulieferungen aus Berlin."

Obwohl der ganz große Ansturm ausblieb, trifft die Billiglohn-Konkurrenz aus den Beitrittsländern die Berliner Wirtschaft doch mit Wucht. Hier funktionierten die Übergangsregeln nicht, wonach Arbeitnehmer etwa aus Polen hier zu Lande noch nicht arbeiten dürften - Selbstständige jedoch schon, erklärt Handwerkskammer-Präsident Schwarz. So gebe es Fälle, in denen bis zu 40 polnische "Scheinselbstständige" unter einer angemeldeten Adresse arbeiteten. "Das sind Arbeitnehmer-Kolonnen, die für Stundenlöhne um die drei Euro arbeiten und in Wohnheimen leben."

Scheinselbstständigkeit stärker bekämpfen

Wenn sich dieser Trend fortsetze, würden im Handwerk verstärkt Arbeitsplätze abgebaut. Der Gesetzgeber müsse die Scheinselbstständigkeit stärker bekämpfen und Mindestlöhne auf einzelne Gewerke wie die Gebäudereinigung oder Fliesenleger ausweiten, fordert Schwarz. Als Chef eines Gebäudereinigungs-Unternehmens werde er seinen Firmensitz nach Polen verlegen müssen, sollte der Wettbewerbsdruck zu hoch werden.

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Dorothée Junkers/DPA