"Ach", sagt Erwin Kruse, "ich fahre da kaum ’rüber. Nur mal zum Tanken und auf den Markt." Sonst lockt den 73-Jährigen wenig ins polnische Kosztryn direkt an der Oder. "Das wird nach der EU-Erweiterung nicht anders", kündigt Kruse mit lauter Stimme an. Dabei ist er 1930 drüben geboren, als der Ort noch Küstrin hieß und deutsche Garnisonsstadt war. Ab und zu noch führt er ehemalige Bewohner durch die zerstörte Altstadt.
Anfang 1945 war die von Hitler zur Festung erklärte Stadt nach zweimonatiger Belagerung völlig zerstört worden. Die Trümmer sind in den vergangenen Jahrzehnten wie ein preußisches Pompeji unter Gestrüpp, Gras und Büschen versunken. "Ich will da nichts wiederhaben", versichert Kruse, "aber ich nehme mir das Recht, meine Heimat zu besuchen." Seit 1946 lebt er im noch heute deutschen Küstrin-Kietz, kaum einen Kilometer Luftlinie von der alten Festungsmauer entfernt.
Mit der Grenze leben gelernt
Im einstigen Vorort am westlichen Oderufer hat er gleich hinter dem Deich sein Haus gebaut und mit der Grenze leben gelernt. Dass jetzt die Zollkontrollen abgeschafft werden, erfüllt Kruse mit Misstrauen: "Ich sehe da schwarz. Dann wird noch mehr illegal ’rüber kommen", erklärt er unter Verweis auf Autoschieber und die Zigarettenmafia. Für die wirtschaftliche Entwicklung schwant ihm ebenfalls Böses: "Wir werden das Armenhaus der Bundesrepublik." Grund für die Befürchtungen ist die polnische Sonderwirtschaftszone rund um Kosztryn. "Die bieten 65 Prozent Ermäßigung auf die Steuern und günstigen Landerwerb. Welcher Investor kommt da schon auf unsere Seite?"
Europa-Enthusiasten sind schwer zu finden in der Gemeinde mit einer offiziellen Arbeitslosigkeit von über dreißig Prozent. Amtsdirektor Lothar Ebert verweist zwar pflichtbewusst auf die "schon jahrelang guten Beziehungen zwischen den kommunalen Körperschaften beiderseits der Grenze". Dann aber kommt auch er auf die Probleme zu sprechen. "Im kleineren und mittleren Gewerbe sind die Unternehmen zu wenig auf die neue Konkurrenz aus Osteuropa eingestellt", warnt er.
Kooperationspartner in Polen suchen
Ohnehin seien Beschäftigte aus Polen vor allem in der Baubranche längst präsent - nur eben als Schwarzarbeiter. Den Betrieben der Region empfiehlt der Amtsdirektor, einen Kooperationspartner in Polen zu suchen, bevor die Übergangsfristen zur Freizügigkeit ablaufen und auch Dienstleister aus den neuen EU-Ländern uneingeschränkten Zugang zum deutschen Markt haben. "Die Kaufkraft in Polen wird wachsen, diesen Markt müssen unsere Unternehmer rechtzeitig erschließen", sagt Ebert.
Zumindest Petra Schneider hofft auf die 18.000 Kosztryner. Sie ist mit ihrer Fischräucherei die letzte Station auf deutscher Seite, bevor die Autofahrer auf die Brücke über die Oder einbiegen. Vor dem Verkaufswagen sitzt in eine Decke gehüllt eine alte Frau, deren Familie zum Einkaufen nach Polen gefahren ist. "Die haben den Personalausweis für Oma vergessen und sie hier abgegeben, bis sie zurück sind", erklärt Frau Schneider. "Kommt oft vor, so was. Und die Passkontrollen bleiben ja auch nach dem 1. Mai."
"Die bieten 65 Prozent Ermäßigung auf die Steuern und günstigen Landerwerb. Welcher Investor kommt da schon auf unsere Seite?"
Ansonsten ist die forsche Frau unentschlossen, was sie von der EU-Erweiterung halten soll. "Vielleicht kommen dann mehr Polen rüber und kaufen Fisch", hofft sie. "Die holen Blei und legen ihn sauer ein. Ist ein billiger Fisch, den mögen die." Ihr Mann müsste dann häufiger rausfahren auf die Oder. Noch reicht es, wenn er jeden zweiten Tag die Netze auslegt. Einige Arbeitslose aus dem Dorf helfen ihm immer und bekommen dafür ein Bier oder einen Kaffee. "Das sind unsere Minijobs", sagt Schneider säuerlich. Polnisch kann sie nicht, aber "die können ja immer etwas Deutsch", berichtet sie über die erhoffte Kundschaft.
Im Kindergarten Polnisch lernen
Im Kindergarten Manschnow, einem Ortsteil von Küstrin, sind die Fünfjährigen allerdings schon weiter. Bei ihnen steht seit Anfang des Jahres einmal pro Woche Sprachunterricht auf dem Plan. Eine Polin hat sich bereit erklärt, die Kinder ehrenamtlich zu unterrichten.
"Seit drei Jahren haben wir eine Partnerschaft mit einem Kosztryner Kindergarten", berichtet Leiterin Cornelia Willmann über die Entstehung der Idee. Zunächst lernen die Vorschüler grundsätzliches Vokabular. "Guten Tag" und "Auf Wiedersehen" können sie schon. Die Eltern seien begeistert, sagt Willmann. "Viele fahren ja regelmäßig auf den Markt rüber." Entsprechend sieht auch der Lehrplan für die Jüngsten aus: "Demnächst sollen wohl ’Brot’, ’Butter’ und ’Käse’ drankommen - was man eben zum Einkaufen braucht", kündigt Erzieherin Monika Lemke an.