"Das Mädchen, das die Seiten umblättert" Die böse Fee der Pianistin

Im Film "Das Mädchen, das die Seiten umblättert" rächt sich eine verhinderte Nachwuchspianistin an der Diva, die ihre Karriere zerstört hat. Dabei schafft der französische Horrorfilm ein besonderes Kunststück.

Klavierspielerin Mélanie weiß, was sie kann. Fleißig hat sich das zehnjährige Mädchen auf den Vorspieltermin im Konservatorium vorbereitet. Mit leuchtendem Gesicht und unter beifälligem Nicken der Jury spielt sie vor sich hin, als das hochfahrende Jurymitglied Ariane mittendrin ihre Aufmerksamkeit einer Autogrammjägerin zuwendet. Mélanie gerät unrettbar aus dem Takt: Ihr Traum ist perdu. Statt Pianistin wird die kleinbürgerliche Metzgertochter "Das Mädchen, das die Seiten umblättert".

Schon wenn die Kleine nach dem Desaster ohne Heulen und Jammern den Saal verlässt und stattdessen einer Kollegin den Klavierdeckel auf die Finger haut, wird klar: In Mélanie steckt noch mehr. Von der Unheil verkündenden Ouvertüre macht der erfolgreiche französische Psychothriller mit dem schönen deutschen Titel einen Zeitsprung zur erwachsenen Mélanie. Sie wird Praktikantin in einer Anwaltskanzlei; ihr Chef ist, welch ein Zufall, der Gatte von Ariane und sucht ein Kindermädchen. Mélanie zieht in das noble Familienanwesen und übernimmt bald die Aufgabe, der Klavier spielenden Ariane mit äußerster Diskretion die Seiten umzublättern. Die nach einem mysteriösen Unfall nervlich zerrüttete Starpianistin ist viel zu beschäftigt mit ihren Ängsten, um sie wieder zu erkennen, und macht die sanfte Blondine zu ihrer Vertrauten und ihrem unentbehrlichen Schatten: Es ist angerichtet.

Horrorfilm fast ohne Blutvergießen

Regisseur Denis Dercourt, einst Soloviolonist und nun Professor am Straßburger Konservatorium, komponiert eine exquisite Rache-Etüde, die grausamer dünkt als mancher Horrorfilm - obwohl die Metzgertochter beim eiskalten Abservieren ihrer Feindin (fast) keinen Tropfen Blut vergießt. Die böse Fee verrichtet ihre zerstörerischen Manöver meist durch bloße Anwesenheit, dabei die Gemüter in erotische Schwingungen versetzend.

Violinistin Virginie aus Arianes Kammerspieltrio erkennt zwar mit weiblichem Instinkt, dass die Neue nicht ganz koscher ist. In der Tat lässt einem Mélanies intensives Starren aus schönen, runden Augen das Blut in den Adern gefrieren. Der Cellist dagegen kapiert nichts und macht sich, angetörnt von ihrem halben Lächeln und ihrer Attitüde einer braven Klosterschülerin, sofort an die subalterne Gehilfin heran. Mélanie manipuliert derweil nicht nur den Klavier spielenden Sohn, sondern macht Ariane subtile Avancen. Dabei ist der Rachefeldzug der verkannten Assistentin ebenso von der Hassliebe zu einer Welt gespeist, die ihr selbst verwehrt blieb, wie auch von ihren ambivalenten Gefühlen für die verletzliche Diva.

Milch, Honig und praller Babyspeck

Das Aufeinandertreffen von Schubert, Neurose, Verführung und Klassengesellschaft erweist sich bald als elegante Stilübung in der Tradition von Chabrols moralkritischen Gesellschaftskrimis. Mitsamt deren Frauenfiguren, die mit Genuss und ungestraft ihre Boshaftigkeit ausleben: Neben dem Opfer Catherine Frot besticht vor allem Déborah François, ganz Milch, Honig und praller Babyspeck, die mit ihrer unergründlichen Ausstrahlung der jungen Catherine Deneuve ähnelt. Im belgischen Drama "L'enfant" spielte die Schauspielerin zuletzt eine naive Kindsmutter. Als Rachegöttin, die ihrem Opfer virtuos den Gnadenstoß versetzt, macht sie nun mehr Spaß. Diese französische Produktion hat es in sich und sollte vom deutschen Publikum die verdiente Beachtung finden.

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Birgit Roschy/AP

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